KURT-Interview

Gifhorner Musiker Billy Ray Schlag spricht über Live-Gigs ohne Publikum, Rassismus und ungeahnte Aktivitäten

Matthias Bosenick Veröffentlicht am 21.07.2020
Gifhorner Musiker Billy Ray Schlag spricht über Live-Gigs ohne Publikum, Rassismus und ungeahnte Aktivitäten

Billy Ray Schlag und Tiana Kruškić gestalteten zusammen „Unser Aller Stream“ als kleinen Ersatz für das Gifhorner „Unser Aller Festival“. Die beiden Musiker haben übrigens Ende Juni geheiratet.

Foto: Oliver Knoblich

Wenn ein tödliches Virus die Welt aus den Angeln hebt und das gewohnte Leben unmöglich macht, muss man ungewöhnliche Wege gehen, wenn man seine im Lockdown untersagten Ideen unter Einhaltung der Infektionsschutzregeln doch noch umsetzen will. Um „Unser Aller Festival“ mit dem gigantischen Programm nicht gänzlich ausfallen zu lassen, organisierten die Agenturen Undercover und Eventives zusammen mit Billy Ray Schlag als musikalischem Direktor kurzerhand ein einstündiges Streaming-Festival im Rittersaal des Gifhorner Schlosses – mit abgespeckten, aber mitreißenden Auftritten von Coffey, den Honolulus und Kleopetrol. Der Gifhorner Billy Ray Schlag sprach mit KURT-Mitarbeiter Matthias Bosenick über Live-Gigs ohne Publikum, Alltagsrassismus, ungeahnte Aktivitäten im Lockdown und die Zukunft seiner Band Kleopetrol.

„Unser Aller Festival“ wurde 2018 ins Leben gerufen. Diesmal sollten The Hooters, Spider Murphy Gang, Afrob, Jan Josef Liefers und noch mehr dabei sein. Locations wären der Schlosshof, die Grille und der Kultbahnhof in Gifhorn sowie weitere im ganzen Landkreis gewesen. Doch wegen Corona musste das alles nun ausfallen. So ganz geschlagen geben wolltet Ihr Euch aber nicht, richtig?

Das Programm ist bis auf zwei Künstler verschoben auf nächstes Jahr, wir wollten aber dieses Jahr trotzdem etwas anbieten. Da hat der Landkreis Gifhorn überlegt, trotz der Absage etwas Cooles zu gestalten – und Undercover hat uns gefragt, ob wir nicht ein paar Künstler zusammenholen können, die auftreten und einen Bezug zum Festival haben. Die Wahl fiel auf die Honolulus, Coffey und Kleopetrol, die alle schon bei „Unser Aller Festival“ gespielt haben.

Und live hast Du als E-Pianist die Rolle der Begleitbands übernommen?

Die Honolulus sind eigentlich eine ganze Band, aber wir haben versucht, das Ganze so klein wie möglich zu halten, deshalb sind nur die drei Sängerinnen aufgetreten. Coffey heißt eigentlich Yannick Kutscher und ist ein Gifhorner Rap-Urgestein, damals mit der Band Stadtrand, die gibt’s seit ein paar Jahren nicht mehr. Der hat 2018 eine EP produziert und hat auch auf dem „Unser Aller Festival“ gespielt, auch mit Band. Der hat angeboten, etwas Kleines zu machen. Kleopetrol ist eigentlich eine siebenköpfige Band, mit Saxophon, Trompeten. Mit solchen Instrumenten muss man sogar noch viel mehr Abstand halten, das war für den Auftritt völlig unrealistisch, deswegen waren wir nur zu zweit.

Und Ihr habt Brücken geschlagen zum geplanten Line-up, zum Beispiel die Honolulus mit „Ohne Krimi geht die Mimi nie ins Bett“, als Anspielung auf die geplante Lesung von Jan Josef Liefers.

Jeder der Künstler hat jeweils einen Song gespielt, der sonst vielleicht auf dem Festival gespielt worden wäre: Yannick „Ruf Deine Freunde an“ von Afrob und Max Herre, und die Honolulus „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang, im Jazz-Swing-Andrew-Sisters-Stil.

Und Corona war als Thema allgegenwärtig – ohne Auftrittsmöglichkeiten und Einnahmequellen fehlt Freischaffenden schließlich die Lebensgrundlage.

Wir haben versucht, die Emotionen, die man als freischaffender Künstler in der Corona-Krise hat, auf die Bühne zu bringen und auch unsere Songauswahl darauf abzustimmen. Yannick hat beispielsweise ein paar traurige Stücke gespielt.

Aber wir haben festgestellt, dass Corona auch Chancen bietet, Zeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen, nicht nur über die Krise zu grübeln. Wir wollten trotz des Themas nicht auf die Tränendrüse drücken, aber auch nicht unterschlagen, dass wir ratlos sind als Künstler, dass man ein bisschen Angst hat, was das für die Zukunft mit sich bringt.

Corona ist eine tödliche Krankheit, da muss man ganz klare Regeln einhalten, das wollen wir auch nicht veralbern. Aber es ist ungewiss, ob die Livemusik-Szene wieder hochkommt, weil man auch nicht weiß, wie sehr man sich auf staatliche Hilfen verlassen kann – aber das will ich jetzt nicht wieder thematisieren. Wir sind umso dankbarer, die Chance bekommen zu haben, Musik zu machen in dieser Zeit.

Das Gifhorner Rap-Urgestein Yannick Kutscher alias Coffey sang vor der Kamera „Ruf Deine Freunde an“ von Afrob und Max Herre.

Foto: Michael Franke

Wie war für Dich der erste Auftritt nach so langer Abstinenz?

Das war unser erster Gig nach zwölf Wochen, so ziemlich, das waren genau 100 Tage bei den Honolulus. Vorher hat man übertrieben gesagt jedes Wochenende vier Stunden in der Kneipe gespielt, nach der langen Pause war für uns das kleine Konzert schon anstrengend. Wir hatten kein Publikum, wollten aber trotzdem die Energie rüberbringen wie in einem vollen Saal, da muss man sich umso mehr anstrengen. Da müssen wir uns wohl alle dran gewöhnen als Musiker momentan – ich schätze mal, dass noch ein paar von den Streaming-Konzerten kommen müssen.

Das Konzert war für viele eine zaghafte Ahnung davon, dass der Lockdown vielleicht bald vorbei sein könnte.

Wir haben kürzlich mit Kleopetrol eine Single rausgebracht, „When This Shit Is Done“. Die handelt davon, was man sich wünscht zu tun, wenn der Scheiß vorbei ist. Wir haben für das Video Leute gebeten, etwas aufzunehmen, Menschenketten aus der ganzen Welt gebildet, das haben wir in den Abspann geschnitten.

Für so etwas hat man dann wiederum während der Kontaktsperre sehr viel Zeit.

Am Anfang des Lockdowns sollte man meinen, dass alle Künstler Zeit zum Kreativwerden haben, Alben aufnehmen, proben. Aber das passierte nicht, nicht bei uns.

Wir haben stattdessen einen Verein gegründet, für musikalische Jugendförderung auf europäischer Ebene, für den Austausch mit Jugendlichen und so. Wir haben die Zeit also genutzt, dieses alte Projekt endlich richtig anzuschieben.

Viele unserer Projekte laufen seit Jahren, in Ghana, der Ukraine, aber wir haben nie Zeit gehabt zum Reflektieren, darüber, was wir an Erfahrung gesammelt haben, und sehen, wo der Weg weiter hingeht. Dafür hatten wir jetzt Zeit. Wir hätten damit auch ein International Girls Rock Camp beim Altstadtfest und in Braunschweig gespielt, mit Mädchen aus ganz Europa, aber das musste ja leider ausfallen.

Und man kann zwar schön und gut Musik machen, aber damit allein hat man nur einen Bruchteil des Erfolges. Du musst eine Web-Präsenz haben, und das liegt den meisten Musikern fern, sich darum zu kümmern, das haben wir im Lockdown auch angeschoben. Wir wussten, dass das ein paar Wochen sein werden, in denen nix sein kann, wir haben die Chance gleich erkannt und genutzt.

Ihr habt auch vor politischen Botschaften nicht zurückgeschreckt, es gab klare Statements im Rahmen von „Black Lives Matter“.

Ich bin unfassbar froh, dass die Rassismusdebatte zurzeit gewissermaßen in ist. Ich bin seit vielen Jahren dabei, zu versuchen, gegen Vorurteile zu sein und in der eigenen Gesellschaft zu ergründen, wie man dagegen vorgehen kann. Das kam nicht immer gut an, wir haben uns mit vielen Leuten angelegt, weil wir Statements in Interviews bringen. Meine Frau Tiana Kruškić hat beispielsweise bei „The Voice Of Germany“ ein bosnisches Friedenslied gesungen, das hat polarisiert.

Viele Leute nervt das, wenn man sich gegen Rassismus stellt, aber heute ist es so etwas wie Mainstream geworden – und wir freuen uns, ich bin gewissermaßen sogar stolz darauf, in einem Landkreis-Gifhorn-internen Kontext unsere Meinung sagen zu können, dass diese Diskussion auf dieser Plattform überhaupt zugelassen wird, ohne dass die Leute nervös werden.

Es bringt nix, wenn wir uns nur unterhalten lassen, wir müssen den Rassismus als Debatte anbringen. Und wir dürfen uns den Lokalpatriotismus nicht von den Rechten vereinnahmen lassen.

Die Honolulus verzückten das Publikum von „Unser Aller Stream“ mit „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang – im Jazz-Swing-Andrew-Sisters-Stil und begleitet von Billy Ray Schlag am E-Piano.

Foto: Michael Franke

Welche Erfahrungen hast Du persönlich mit Rassismus?

Tiana ist 1992 nach Deutschland gekommen, aus dem Balkankrieg, als Kriegsflüchtlingskind. Sie wird täglich diskriminiert, das müssen keine Nazis sein, das ist Alltagsrassismus. Ich hab sie kämpfen sehen und gedacht, was kann ich tun als weißer, heterosexueller Mann, wenn andere weiße, heterosexuelle Männer so etwas nicht wahrnehmen. Ich spreche das an, gehe gegen Vorurteile vor: Sie ist nach Deutschland gekommen, bevor ich geboren bin, sie spricht also länger Deutsch als ich, und ich habe ihre Erfahrungen mit so einem Rassismus jahrelang geteilt. Wenn ich zu Ausländerfeindlichkeit etwas sage, dann ist es nicht nur der Ausländer, der etwas sagt, wir können beide etwas sagen.

Ich bin aus meiner Sicht als Deutscher in einem linken Haushalt aufgewachsen, aber bin trotzdem nicht gefeit vor Vorurteilen, ich habe viele Diskussionen mit Leuten in jedem politischen Spektrum. So eine Erziehung heißt nicht, dass Du komplett frei bist von Rassismus, die Deutschen haben sogar ein Problem, den eigenen Rassismus anzuerkennen. Durch die deutsche Geschichte ist Rassismus so weit nach rechts außen verlegt worden, dass wir bei der AfD schon überlegen, ob sie überhaupt rassistisch sind, und denken, wenn die das sind, dann können wir ja gar nicht rassistisch sein. Das ist ein Irrtum.

Wie kannst Du Dich künstlerisch in die Debatte einbringen?

Die Honolulus sind entstanden, als meine Mutter und ich überlegt haben, wie können wir die eigene Kultur feiern, ohne zu meinen, andere sind nicht willkommen. So haben wir Retro-Schlager genommen und spielen die in unserem Stil. Wir finden, als Musiker sind wir am mächtigsten, wenn wir das in dieser Art machen. Wir sehen uns als Musiker und als Aktivisten, auch mit der Band Kleopetrol geht es um die politische Botschaft. Ende des Jahres bringen wir unsere erste EP heraus, auf der es neben anderen weltpolitischen Themen um meine Erfahrungen als Deutscher geht, verheiratet mit einer Geflüchteten.

Wir haben zwar Verständnis dafür, dass Leute Vorurteile haben, aber wir haben kein Verständnis dafür, dass man sich dagegen wehrt, das zu lernen. Dafür, dass wir weißen Männer eine Minderheit in der Welt sind, haben wir ein ganz schön großes Ego.

A propos verheiratet: Die Hochzeit fand erst Ende Juni statt, wie sah die aus?

Ursprünglich hatten wir vor, mit 170, 180 Leuten zu feiern aus aller Welt, aus Japan, Australien, den USA, Bosnien, Kroatien, Ghana, Kenia. Die meisten sind Musiker, die Party wäre die Party des Jahrhunderts geworden, Live-Musik mit all den coolen Freaks. Stattdessen feierten wir mit wenigen Freunden bei uns zu Hause, wir haben ein Haus in Braunschweig, mit Tonstudio, Proberaum, Gästezimmern, das war trotzdem schön, familiär. Eine kleine, aber feine Gesellschaft, die uns ein umso intensiveres und emotionaleres Erlebnis beschert hat, nach so langer Zeit gesellschaftlicher Abstinenz – und wir haben uns davon nicht abhalten lassen, bis morgens um acht zu feiern.

Die Familie spielt bei Dir ohnehin eine wichtige Rolle, Deine Mutter singt bei den Honolulus, Dein Vater betreibt den Kultbahnhof, Du bist bei Coffey und Kleopetrol involviert…

Bei Coffey und Kleopetrol sind sogar meine Cousinen und Cousins dabei, bei Coffey singt meine Schwester im Background, das ist super, das macht total Spaß, von Kindheit an zusammen Musik zu machen.

Unser Aller Festival

„Unser Aller Stream“ hieß das Ersatzprogramm, das im Juni live aus dem Gifhorner Rittersaal gesendet wurde – mit Billy Ray Schlag, Coffey, den Honolulus und Kleopetrol. Nachzusehen und nachzuhören bei YouTube unter www.youtube.com/watch?v=Q7ikAmQOXdI.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben: „Unser Aller Festival“ geht 2021 wieder an den Start – und viele der für dieses Jahr geplanten Acts sind dann zwischen Ende Mai und Anfang Juni wieder dabei. Tickets gibt‘s im Internet unter www.allerfestival.de.


Coole Leute gesucht – wir stellen ein!

Informiere Dich über Jobs in unserem Medienhaus! Wir sind auf der Suche nach tollen Menschen, die bei uns einsteigen möchten.

Mehr erfahren