Stolpersteine

Dunkle Tropfen auf goldenen Mahnmalen: Bewegende Augenblicke beim Verlegen der neuen Stolpersteine im Gifhorner Schlosshof und in Kästorf

Mia Anna Elisabeth Timmer Veröffentlicht am 24.02.2025
Dunkle Tropfen auf goldenen Mahnmalen: Bewegende Augenblicke beim Verlegen der neuen Stolpersteine im Gifhorner Schlosshof und in Kästorf

Landrat Tobias Heilmann (links) spricht mahnende Worte, Künstler Gunter Demnig verlegt die Stolpersteine.

Foto: Mel Rangel

Nie wieder ist jetzt, Nazis raus, ganz Gifhorn hasst die Nazis – oft werden solche Sprüche bei Demos gegen Rechtsextremismus skandiert. Doch um unsere Demokratie und Vielfalt zu schützen, müssen wir eine solide Grundlage schaffen – das geht nur mit Aufklärung, auch mit einer funktionierenden Erinnerungskultur. Und das schaffen wir auch in Gifhorn: Künstler Gunter Demnig setzt zur Erinnerung an Opfer des NS-Regimes die Stolpersteine, die Mahnmale im Alltag sind. KURT-Volontärin Mia Anna Elisabeth Timmer war bei der jüngsten Verlegung Mitte Februar dabei.

„Meine Söhne tragen nie das braune Hemd – da verwette ich meinen Arsch drauf“, soll Max Alfred Dunkel, der zeitweise in Gamsen lebte, zu Männern der SA gesagt haben, als er verweigerte seine Söhne zur Hitler-Jugend zu schicken. Ob das stimmt, ist sich sein Enkel Andreas Dunkel (68) nicht ganz sicher – aber man erzählte es sich so in der Familie. Auch wenn diese Anekdote die Jahrzehnte überlebt hat, viel haben die Nachfahren von Max Alfred Dunkel nicht über ihn gesprochen – das sollte sich erst jetzt mit der Stolperstein-Verlegung im Gifhorner Schlosshof ändern.

Februarwetter: Nieselregen träufelt auf die Stirn, es ist klirrendkalt. Es scheint, als wäre dieses Wetter fürs Verlegen von Stolpersteinen gemacht – oft braucht man einen Regenschirm. Heute zückt ihn niemand, die Konzentration richtet sich voll auf das Geschehen. Enkel, Urenkel und Ururenkel von Max Alfred Dunkel sind da. Menschen aus Stadt und Landkreis, Schülerinnen und Schüler der IGS Sassenburg sowie der IGS Peine, Persönlichkeiten aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft sind gekommen. Man nickt sich zu, andächtig. Man kennt sich. Und man kennt die Geschichten – wer sie nicht kennt, bekommt sie zu hören.

Neben zahlreichen Interessierten nahmen auch viele Schülerinnen und Schüler am Verlegen der fünf Stolpersteine im Gifhorner Schlosshof teil.

Foto: Mel Rangel

Paul Alfred Basse, Max Alfred Dunkel, Max Habermann, Elisabeth und Hermann Thran passten dem NS-Regime nicht – die Gründe sind verschieden. Sie alle waren im Gifhorner Gerichtsgefängnis in „Schutzhaft“. Bereits 1850 wurde diese eingeführt, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen „Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe“. Historiker Manfred Grieger weiß: „Vieles von den Nazis ist ja gar nicht neu.“ Und so nutzten sie eben dieses Konzept: „Es ist kein Geheimnis, was die Schutzhaft war.“ Es ging darum, all jene einfach aus dem Weg zu schaffen, die nicht ins nationalsozialistische Weltbild passten – zu Unrecht und auf unbestimmte Zeit. Nun werden für sie Mahnmale errichtet. Hier war ihr unfreiweilliger Aufenthaltsort, als ihnen Unrecht angetan wurde.

Das Gifhorner Schloss erscheint eindrucksvoll wie immer. Heute scheint es uns nahezu unvorstellbar, was hier hinter dicken Mauern und vergitterten Fenstern geschah.

Künstler Gunter Demnig, der hinter den Stolpersteinen steckt, tritt hervor. Seit 1996 verlegt er die Gedenksteine, das größte dezentrale Mahnmal Europas. Die Idee: Im Alltag stolpern Menschen über die Geschichte und vermögen so zu gedenken.

Auch wenn Interessierte erzählt bekommen, wie sehr er im Stress sei, scheint es, als könne den 77-Jährigen nichts aus der Ruhe bringen. Er trägt sein Werkzeug zu den viereckigen Löchern im Kopfsteinpflaster, sein Gesicht zeichnet ein ernster Blick. Die Stolpersteine verlegt er schweigend. Kniend verrichtet er sein Werk, im Hintergrund spielt eine Ziehharmonika. Die Patinnen und Paten der Mahnmale treten vor: Manche tragen die Biogramme der jeweiligen Opfer vor, andere finden mahnende Worte.

„Demokratie lebt von der Vielfalt der Meinungen“, erklärt etwa Verena Maibaum im Namen der Gleichstellungsbeauftragten im Landkreis Gifhorn. Sie übernehmen die Patenschaft für den Stein für Elisabeth Thran, die in Gifhorn lebte und sich als Kommunistin gegen das NS-Regime stellte. „In den vergangenen Jahren erleben wir wieder, wie Menschen aus der Politik bedroht werden“, so Verena Maibaum. „Dies ist nicht nur eine Bedrohung für unsere Demokratie, sondern auch für die Werte, die die
Gesellschaft zusammenhalten.“

„Da ist man stolz auf den Opa“: Andreas Dunkel spricht, während für seinen Großvater Max Alfred Dunkel ein Stolperstein verlegt wird.

Foto: Mel Rangel

Die Bedeutung des Projekts macht Landrat Tobias Heilmann deutlich: „Bei der Abschlussfahrt meiner Tochter ging‘s auch ins KZ Auschwitz – sie kam als anderer Mensch zurück. Sie ist 1,60 Meter groß, aber wenn sie einen Menschen mit der falschen Rhetorik trifft, wird sie 2,20 Meter.“ Er betont: „Nur noch 12 Prozent der Jugendlichen wissen, was passierte. Umso wichtiger ist, dass wir diese Orte des Erlebens und Erinnerns erschaffen.“ Gifhorns Bürgermeister Matthias Nerlich bekräftigt: „Der Beschluss über die Stolpersteine ist die wichtigste Entscheidung des Stadtrats, um sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen – wir setzen ein starkes Zeichen. Die Nationalsozialisten wollten Menschen und Namen auslöschen, wir holen sie wieder zurück.“

Heute erleben und erinnern sich nicht nur interessierte Bürgerinnen und Bürger, sondern auch viele Schülerinnen und Schüler. Sie wirken alle betroffen. Die Geschichten gehen nah: Es sind bewegte Biografien, die bis nach Gifhorn ins Gerichtsgefängnis führten. Einige nicken zustimmend, während sie den mahnenden Worten lauschen. Hier wurde etwas bewirkt. „Wir haben das sehr intensiv erlebt“, reflektiert der eingangs erwähnte Andreas Dunkel, für dessen Großvater ein Stolperstein verlegt wurde. „Da ist man stolz auf den Opa.“

Maike Klesen, Fachbereichsleiterin für Stadtplanung im Gifhorner Rathaus und Patin von Dunkels Stolperstein, ist überzeugt: „Max Dunkel verweigerte den Hitlergruß. Er wollte dieses System nicht tragen.“ Sie richtet sich an die Schülerinnen und Schüler: „Ich hoffe, dass Ihr jungen Leute heute das Rückgrat haben werdet wie er.“ Und ans gesamte Publikum: „Haben Sie alle das Rückgrat wie Max Dunkel.“ Die Biografie: 1905 geboren, SPD-Mitglied, 1938 kommt er in „Schutzhaft“ im Gerichtsgefängnis Gifhorn. Es folgen Aufenthalte im KZ Buchenwald (1939) und im KZ Sutthof (1942). 1944 wird Max Alfred Dunkel entlassen und an die Front geschickt, am 30. Oktober 1951 wählt er den Suizid. „Er hat das schlimmste, was man sich vorstellen kann, überlebt: die Haft, das Arbeitslager, den Krieg“, berichtet Andreas Dunkel. Entschädigt wurde er jedoch nie, die Verbrechen der Nazis wurden in der frühen Bundesrepublik kaum benannt, die Täter von einst bekleideten wieder führende Positionen – auch das mag Max Dunkel zur Flucht in den Tod geführt haben, vermutet sein Enkel heute.

Musik und weiße Rosen: Auch vorm Erziehungsheim Rischborn der Diakonie in Kästorf wurden wieder Stolpersteine verlegt.

Foto: Mel Rangel

Es geht weiter zur Diakonie, den einstigen Kästorfer Anstalten. Zwei Stolpersteine werden dort vorm Erziehungsheim Rischborn verlegt: Wieder geht Künstler Gunter Demnig behutsam seiner Arbeit nach, wieder spielt die Ziehharmonika. Erinnern sollen diese Mahnmale an Heinz Försterling und Wilhelm Noltemeyer. Beide wurden zwangssterilisiert, Noltemeyer wurde in verschiedene Konzentrationslager verschleppt und 1945 ermordet. Beide waren Jugendliche und lebten selbst in dem Erziehungsheim.

Eine Jugendliche liest die Biografie von Heinz Försterling. Die Patenschaft für den Stein für Wilhelm Noltemeyer haben Jenny und Jürgen Errerd übernommen: „Als aktive Pflegefamilie sehen wir auch heute die unterschiedlichen Gründe, warum Kinder nicht in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen können. Deshalb ist es so wichtig, diesen jungen Menschen Halt, Therapie, Liebe und Fürsorge zu geben. Die Willkür darf nicht wiederkommen. Es geht dabei um Zivilcourage und die Menschenwürde – egal welche Nationalität oder Glauben.“


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