Kopfüber-Kolumne

Wie schön: Eine neue Politikbegeisterung liegt in der Gifhorner Luft

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 10.09.2021
Wie schön: Eine neue Politikbegeisterung liegt in der Gifhorner Luft

Überall engagieren sich die Leute in der Politik – angefangen auf dem kleinsten Dorf. Das verdient Bewunderung und Respekt, meint KURTs Kopfüber-Kolumnist Malte Schönfeld.

Foto: Selina Sanft (Gestaltung)

Spaziergang an einem Sonntag durch Isenbüttel. Der Abend ist lau, wolkenloser Himmel, die Sonne scheint goldig warm.

An mir vorbei fährt ein Pärchen in einer Art Lastenfahrrad. Ich erkenne meine Klassenlehrerin von der Anne-Frank-Schule, aus dem 5. Jahrgang. Zu meiner Überraschung erkennt auch sie mich wieder und bietet mir das Sonja an. Wir unterhalten uns kurz. Sie kandidiere für den Samtgemeinderat und sei auf dem Weg zu einer Parteifreundin. „Wahlkampf-Besprechung“, sagt sie. Ich frage, ob mit Besprechung Weißwein gemeint sei. Sonja lächelt wie damals im Jahr 2004 und drückt mir einen Flyer in die Hand. Wir verabschieden uns. Erst ein paar Tage später bemerke ich, dass ein Klassenkamerad von damals ebenfalls bei der Kommunalwahl mitmischen wird.

Den Flyer lesend spaziere ich weiter durch Isenbüttel, alle zehn Meter grinst mich ein Bekannter von seinen DIN-A0-Plakaten an. Er möchte Samtgemeindebürgermeister werden. Auf der Habenseite: stellvertretender Bürgermeister, trotz jungen Alters einiges an Erfahrung, soziales Engagement in der Freizeit. Ich kenne ihn seit gut 15 Jahren, ich kaufe ihm seine Heimatliebe ab. Ich verbinde ihn mit diesem Dorf, ausschließlich.

Gleichzeitig erinnert mich das an einen meiner besten Freunde, der in diesem Jahr erstmalig für den Ortsrat in Winkel kandidiert.

Dr.-Best-Grinsen, freundlich wie kaum ein anderer, das Herz am rechten Fleck. Auch er ist nicht mal 30, und auch ihn zieht es in die Lokalpolitik.

Isenbüttel, Gifhorn Stadt, Winkel – inzwischen engagieren sich viele mir bekannte Leute in ihrem Wirkungskreis. Das kann nicht nur an meiner Bubble liegen. Es wäre merkwürdig, wenn ich meine ehemalige Lehrerin, die ich jahrelang nicht gesehen habe, zu meiner Peer-Group zählte. Eher hat es mit etwas anderem zu tun: Es liegt eine neue Politikbegeisterung in der Luft. Viel zu lange war Müdigkeit zu spüren. Nach 16 Jahren sagt Angela Merkel auf Nimmerwiedersehen. Ihre pragmatische Wendigkeit und das nüchterne Ausharren haben die Bevölkerung glauben lassen, dass es anders nicht mehr geht. Lange vermisste man Esprit und Agenda. Das zieht sich bis ins dörflichste Dorf.

Beinahe schlimmer noch das Postengeschacher, bei dem Regierungsmitglieder von Ministerium über Ministerium zu Aufsichtsräten sprangen. Das hat Vertrauen gekostet. Politik sollte kein Karrierismus sein!

Schließlich der Fleischwolf der Parteien-Industrie, der häufig kantenlose Leerkörper ausgespuckt hat. Sie sagen Sätze, die kein Leben tragen, die keinen Sound und keine Emotionen auszeichnet. Wie ein Computer tragen sie ihre Texte in einem binären System aus Einsen und Nullen vor. Die Fähigkeit, Begeisterung zu entfachen? Fehlanzeige.

Nicht zu vergessen die tiefen Themen unserer Zeit: Klimawandel, Digitalisierung, die Angst vor Armut. Was passiert in zehn Jahren, was in 20? Es stehen Veränderungen an.

Diese Zeiten der Veränderungen mitzubestimmen, bringt meine Bekannten in die Wahllisten. Sie reiben sich den Schlaf aus den Augen. Sie reden von einem „neuen Politikstil“. Tragödien wie das Hochwasser im Südwesten erschüttern uns, gleichzeitig verstehen wir, dass das die Vorboten der dunklen Zukunft sind. Wenn weitere Menschen in die Armut gepresst werden. Wenn weitere Menschen abgeschnitten werden. Wenn weitere Menschen sterben werden. Wir lernen qualvoll, dass das Elend nicht mehr vor der Haustür steht, sondern den kompletten Straßenzug wegreißt.

Den Versuch, dieser dunklen Zukunft entgegenzutreten und sie abzuwenden, haben sich diese ambitionierten Politikerinnen und Politiker zur Aufgabe gemacht. Ich verneige mich vor ihrer Begeisterung in einer aussichtslosen Situation.


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