Glauben & Zweifeln

Wenn sich Zeiten wenden - In der Musik wie in der Welt finden sich die Schwingungen Gottes als Sehnsucht

Martin Wrasmann Veröffentlicht am 29.05.2022
Wenn sich Zeiten wenden - In der Musik wie in der Welt finden sich die Schwingungen Gottes als Sehnsucht

Wenn sich die Zeiten wenden: KURT-Kolumnist Martin Wrasmann gibt die Sehnsucht nach Gott Verlässlichkeit.

Foto: Çağla Canıdar

Die Zeiten ändern sich nicht nur, sie wenden sich. Es sind erosionsartige Entwicklungen, denen wir kaum noch hinterherkommen, über zwei Jahre Pandemie, die schnell fortschreitende Klimakrise, der grauenhafte Krieg in der Ukraine, und darin die Veränderung der persönlichen Lebenslagen, Inflation, immense Preisanstiege im täglichen Bedarf, und vor allem die Frage, ob die eigenen Wertvorstellungen noch belastbar sind: die Haltung zu militärischen Entscheidungen, zur Frage, ob die klimapolitischen Entscheidungen durchgehalten werden können, und wie wir die sozial entstehenden Schieflagen auffangen können. Was kann in diesen Zeiten Sicherheit und Verlässlichkeit geben?

Schon vor allen aktuellen Krisen, hat die Pop- und Rockkultur in unserem Land ein Lebensgefühl besungen und beschrieben, die tiefe Sehnsucht nach Orientierung: „Gib mir ‘n kleines bischen Sicherheit, in einer Welt, in der nichts sicher scheint“ und „Wann geht der Himmel auf, auch für mich“ (Silbermond) oder „Bitte hör nicht auf zu träumen von einer besseren Welt“ (Söhne Mannheims), sicherlich auch der Song „Haus am See“ von Peter Fox, die „Stadt aus Gold“ von Cassandra Steen, das Kompass-Album von Udo Lindenberg, sinnfragende Songs von Johannes Oerding. Die Reihe von Interpreten und Liedern ließe sich fast unendlich fortsetzen.

Beschreibungen aus vermeintlich säkularen Zusammenhängen mit vielen Fragen an die sakrale Welt, aus der viele oft eine Antwort suchen auf die Frage, was denn heute noch tragen kann und belastbar ist. Diese eher aus der Jugendkultur stammenden Empfindungskulturen finden ein Adäquat in der Welt der Erwachsenen, wie es Gabor Steingart in „Das Ende der Normalität“ zusammenfasst: „Früher war nicht alles besser, aber vieles verlässlicher. Die Welt drehte sich, aber sie rotierte nicht ständig. Heute ist die Treue zur Automarke größer als die zum Ehepartner. Bei Kirche denkt niemand mehr an Enthaltsamkeit. Normalität bedeutete das Verlässliche in der Gesellschaft. Es war jene Zeit, als Familie noch lebenslange Schicksalgemeinschaft bedeutete. Damals begann nach der Ausbildung der ‚Ernst des Lebens‘ und nicht das nächste Praktikum. Es war jene Zeit, als man drei Freunde im Café traf und nicht 500 Freunde auf Facebook. Damals bekamen Banker noch einen Schreck, wenn sie das Wort Risiko hörten, und nicht – wie ihre Nachfahren – einen Erregungszustand.“

Es geht also um Orientierung in Zeiten, in denen keine Planbarkeit oder Verlässlichkeit empfunden wird, oder um es in der Sprache von Religion und Philosophie zu formulieren: Es geht um Sehnsucht. Was nährt mich und macht meine Seele satt? Wonach sehne ich mich und was lässt mich gelassen sein, wenn trotzdem das Gefühl da ist, dass um mich herum alles oder vieles zusammenbricht?

Mir hilft da diese Erzählung von Martin Buber aus der jüdischen Tradition: Ein junger Jude kommt zu einem Rabbi und sagt: „Ich möchte gern zu Dir kommen und Dein Jünger werden.“ – Da antwortete der Rabbi: „Gut, das kannst Du, ich habe aber eine Bedingung. Du musst mir eine Frage beantworten: Liebst Du Gott?“ Da wurde der Schüler traurig und nachdenklich. Dann sagte er: „Eigentlich, lieben, das kann ich nicht behaupten.“ – Der Rabbi sagte freundlich: „Gut, wenn Du Gott nicht liebst, hast Du Sehnsucht ihn zu lieben?“

Der Schüler überlegte eine Weile und erklärte dann: „Manchmal spüre ich die Sehnsucht sehr deutlich, aber meistens habe ich so viel zu tun, dass diese Sehnsucht im Alltag untergeht.“
Da zögerte der Rabbi und sagte dann: „Wenn Du die Sehnsucht, Gott zu lieben, nicht so deutlich verspürst, hast Du dann Sehnsucht, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben?“
Da hellte sich das Gesicht des Schülers auf und er sagte: „Genau, das habe ich. Ich sehne mich danach, diese Sehnsucht zu haben, Gott zu lieben.“ Der Rabbi entgegnete: „Das genügt. Du bist auf dem Weg.“

Sich danach zu sehnen, eine Sehnsucht zu haben – für die einen ist es Gott, für andere die Sehnsucht nach tragfähiger Beziehung, oder nach Frieden und Gerechtigkeit. Was es auch sein mag, es liegt oftmals ein Gefühl dahinter, was jeder und jede in sich spürt und sich nur so schwer beschreiben lässt.

Es ist wie mit der Interpretation eines Musikstücks durch den Spieler oder die Spielerin. „Im Idealfall würde man eine Passage gleichmäßig spielen und gerade so viel Unregelmäßigkeiten zulassen, dass ein Element der Lebendigkeit spürbar bleibt, sich auf das beschränken, was man vielleicht la part de Dieu, den Teil Gottes nennen kann, jene Nuance, von der fast jede Aufführung fast unbewusst bestimmt ist“, sagte der Violinist und Dirigent Yehudi Menuhin. Die Noten, die Partitur in ihrer Bedeutung, das ist klar, sie sind so exakt wie möglich zu spielen. Und doch braucht es jenen Spielraum, der mit allen Noten, Zeichen und Instrumenten nicht zu machen ist und den wir doch durchlassen dürfen in unserer eigenen Lebendigkeit – Gottes Part. Davon bekommt jede Musik ihre Strahlkraft.

Vielleicht haben Sie das ja auch schon erlebt. Ein Konzert, eine Musik, die Sie so mitgenommen hat, dass Sie hingerissen waren über sich selbst hinaus und ahnten, dass es noch mehr gibt, über den Rand der Noten und allem Sichtbaren hinweg: la part de Dieu. Wir können ganz bestimmt Orte damit verbinden – mir geht es so. Erlebnisse, von denen wir das sagen können; die Sternstunden, an die man sich noch lange erinnert.

Wenn sich die Zeiten wenden, was bleibt? Ich setze für mich auf diesen Part – la part de Dieu.

Max Horkheimer, der großartige Philosoph der Frankfurter Schule, setzt diesen Satz für sich anders um, in dem er sagt: „Es gibt die Sehnsucht nach dem ganz anderen.“

Martin Wrasmann, Pastoralreferent emeritus der St. Altfrid-Gemeinde in Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“. Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe gerne an redaktion@kurt-gifhorn.de.


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