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Über Erschöpfung: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld will zwischen Weihnachten und Neujahr endlich mal Ruhe haben

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 31.12.2022
Über Erschöpfung: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld will zwischen Weihnachten und Neujahr endlich mal Ruhe haben

Zwischen Weihnachten und Neujahr einfach nur zu Hause sitzen. Ein Buch lesen. Spazierengehen. Ganz allein. Wie schön wäre das?

Foto: Andrew Neel/Pexels

Am Samstag komme ich nicht aus dem Bett.

Am Sonntag auch nicht. Es braucht ein wenig. Unter anderem den Gedanken an frische Brötchen vom Bäcker, Baked Beans und Rührei. Unter der Dusche. Das Shampoo „Sanfte Hafermilch“ soll laut eigener Aussage beruhigen. Tut es. Später, nach einem Glas schwarzen Tees, laufen Birne und Beine wieder.

Was ist da los, frage ich mich. Muss an den neumodernen Begriff „soziale Batterie“ denken. Die ist eben manchmal leer. So wie früher beim Gameboy. Grünes Licht ist super, rotes Licht bereitet Sorgen, gar kein Licht macht den Bildschirm schwarz. Ich bin erschöpft.

Noch vor einem Jahr galt jeder soziale Kontakt als unschicklich. In den vergangenen vier Wochen habe ich in Köln als Ritter Karneval gefeiert, bin am Bernsteinsee Kart gefahren und habe anschließend den Geburtstag des Vaters meiner Freundin mit eingelegten Gurken, Rollbraten und Wodka erlebt, musste 20 rauchende Personen an Thanksgiving in meinem Zimmer
ertragen, habe versucht, einem Freund über den plötzlichen Tod seines Vaters zu helfen, habe Leipzig besucht und eine Einladung nach Berlin erhalten, bei meiner Oma am Kaffeetisch gesessen, Freunde zum Grünkohlessen getroffen, eine Woche später noch mal Freunde zum Grünkohlessen getroffen und doch alles in allem eine schöne Zeit verbracht.

In einer Civey-Studie aus dem August heißt es, dass sich 49,5 Prozent der deutschen Bevölkerung als erschöpft bezeichnen würden. Gründe dafür: Leistungsdruck, Erziehung der Kinder, Pandemie, Ukraine, Medien-Konsum.

Angela Merkel, die Ex-Kanzlerin, kloppte streckenweise 140-Stunden-Arbeitswochen. Am Ende zitterte sie sich gerade so ins Ziel. Basketball-Legende Kobe Bryant erzählte stolz von seinen täglichen vier Stunden Schlaf.

Vor wenigen Tagen kam mein Mitbewohner abends in die WG-Küche. Er, 23, sagte, dass er sich nach der Uni hinlegen musste, nun sei er gerade wieder wach geworden, gebrauchter Tag, Scheißtag sogar. Es würde ihm derzeit schwer fallen, aus dem Bett zu kommen. Er ist in Therapie, wohl auch deswegen.

Irgendwo in diesen Erzählungen findet sich vermutlich jede und jeder von Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, wieder.

Zwischen Schlaflosigkeit und Arbeitsstress die Kinder in den Kindergarten bringen, dann Tabellen kalkulieren oder Mails beantworten, geistlos in einem Meeting Haribos und Schokolade schlucken, an der Zapfsäule stehen, ins Minus gehen, abends ins kalt ausgeleuchtete Fitnessstudio schleppen. Bei Amazon die Black-Friday-Woche auskosten. Bei Tinder swipen. Den Spotify-Jahresrückblick kritisieren. Und hellwach vor dem Einschlafen einen Podcast über das Einschlafen hören.

Unter Garantie fehlt es mir an gesunder Ernährung, wahrscheinlich an Sport und Alleinsein. Dazu bräuchte es eine mentale Müllabfuhr, die sich um den ganzen Schrott, das berühmte weiße Rauschen, kümmert: Krieg, Corona, Inflation, Sekundenkleber und Monet, Precht und Musk. Der trockene Husten unserer Zeit.

Es braucht ein wenig, um eine Erschöpfung festzustellen. Denn man läuft ja einfach so weiter. Ausfälle drohen eigentlich nicht, zumindest nicht kurzfristig. Und es ist auch kein Post-Corona-Zustand, der mich da an diesem Samstag und diesem Sonntag unter der Bettdecke gefesselt hat. Vielmehr scheint es ein normaler Zustand zu sein, den man erreicht, wenn man sich nur lange genug mit Erwachsenenproblemen konfrontiert sieht.

Zwischen Weihnachten und Neujahr werde ich zu Hause sitzen. Ein Buch lesen. Spazierengehen. Ganz allein. Und wenn mich jemand stört, bringe ich ihn um.


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