Raum für Notizen

Raum für Notizen: KURT-Kolumnistin Marieke Eichner sieht weltweit eine neue Pandemie grassieren - die Tanzwut

Marieke Eichner Veröffentlicht am 22.10.2022
Raum für Notizen: KURT-Kolumnistin Marieke Eichner sieht weltweit eine neue Pandemie grassieren - die Tanzwut

Im 14. bis 17. Jahrhundert kam es in den Gebieten, die heute Frankreich, Niederlande und Deutschland heißen, immer wieder zu regionalen Ausbrüchen der „Tanzwut“. KURT-Kolumnistin Marieke Eichner sieht heute wieder Menschen von der „Tanzepidemie“ infiziert.

Foto: RODNAE Productions/Pexels

So viel haben wir in den vergangenen zwei Jahren von Pandemien gelesen, gehört und gesehen, in den Berichten von Seuchen vergangener Jahrhunderte nach Zukunftsprognosen gesucht, dabei haben wir eines der interessantesten Phänomene bisher übersehen: die Tanzepidemie.

Im 14. bis 17. Jahrhundert kam es in den Gebieten, die heute Frankreich, Niederlande und Deutschland heißen, immer wieder zu regionalen Ausbrüchen der „Tanzwut“. Menschen, meist Frauen, fingen aus unerfindlichen Gründen an, sich rhythmisch zu bewegen – und hörten damit auch nicht mehr auf. Andere schlossen sich an, sie tanzten bis zur Besinnungslosigkeit, manchmal bis in den Tod.

Waren halluzinogene Pflanzen oder gar Spinnenbisse die Ursache? Sicher hatte der Teufel seine Hände im Spiel! Heute gibt‘s eine andere Interpretation: Der ungestüme Tanz war Ausdruck individueller Suche nach dem Transzendenten, nach Gott, und Auflehnung gegen Unterdrückung durch religiöse Autoritäten. Die jedenfalls waren gar nicht begeistert von diesem unkontrollierbaren Exzess.

Tanzen ist in erster Linie Ausdruck von Energie, von Ekstase, die ihr Ventil in der körperlichen Bewegung sucht. Vor allem jedoch ist Tanzen einer dieser einzigartigen Zustände, in denen der Mensch absolut individuell und gleichzeitig als Teil einer Gruppe existiert.

Diese absolute Individualität basiert zum einen auf der natürlichen Einzigartigkeit jedes menschlichen Körpers. Zum anderen ist der Tanz, verbunden mit rhythmischer Musik, ein Ganz-bei-sich-sein, ein Die-Welt-Ausblenden. Indes: Wenn Individuen gemeinsam zur gleichen Musik tanzen, somit in ihrer Verschiedenartigkeit der Bewegungen dennoch eine Einheit bilden, entsteht gesellschaftliche Zugehörigkeit.

Und genau aus diesem Grund bereitete die Tanzepidemie den Autoritäten mächtig Unbehagen – und tut es auch heute noch. Beim „Arabischen Frühling“ tanzten Demonstrantinnen 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo; bei den feministischen Demonstrationen 2015 in Buenos Aires und landesweit in Polen 2016 war ebenfalls der Tanz Ausdruck und Teil der Rebellion. Die Liste der getanzten Rebellionen ist lang.

Jetzt, im Jahr 2022, tanzen russische Frauen in der ostsibirischen Stadt Jakutsk den traditionellen „Osuokhai“ um die – für einen kurzen Moment – machtlose Polizei und rufen „Nein zum Krieg, nein zum Völkermord“. Und im Iran, wo Frauen das Singen und Tanzen in der Öffentlichkeit verboten ist, schallt „Frauen, Leben, Freiheit“ durch die Straßen, während sich die Menschen ausgelassen gemeinsam rhythmisch zur Musik bewegen.

„Wenn ich nicht tanzen kann, will ich kein Teil Eurer Revolution sein“, schrieb einst die US-amerikanische Anarchistin Emma Goldman sinngemäß in ihrer Autobiografie. Jetzt, im Jahr 2022, wäre sie bestimmt ebenfalls von der Tanzepidemie infiziert.


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