KURT vor Ort

Oh, wie schön ist Gifhorn – Ich will nicht nach Berlin!

Marieke Eichner Veröffentlicht am 05.04.2021
Oh, wie schön ist Gifhorn – Ich will nicht nach Berlin!

In einer Zeit der geschlossenen Kneipen machen sich Marieke Eichner und KURT-Fotografin Çağla Canıdar auf die Socken, um den Rausch der Gifhorner Natur zu fühlen.

Foto: Çağla Canıdar

Die Pandemie feiert höhnisch ihren ersten Geburtstag, den Menschen fällt im Lockdown langsam die Decke auf den Kopf. Ganz Gifhorn ist besetzt von dreckig-grauer Stimmung. Ganz Gifhorn? Nein! Eine von unbeugsamen Optimisten bevölkerte Redaktion hört nicht auf, der Demotivation Widerstand zu leisten. In einer Zeit der geschlossenen Kneipen machen sich Marieke Eichner und KURT-Fotografin Çağla Canıdar auf die Socken, um den Rausch der Gifhorner Natur zu fühlen. Denn auch wenn uns allen der Lockdown tierisch auf die Ostereier geht – wenigstens müssen wir ihn nicht in einer stickigen, steingrauen Großstadt ertragen.

An einem selten gewordenen Büro-Nachmittag bespricht die KURT-Redaktion die neue Ausgabe. Fröhlich soll‘s werden, motivierend, Hoffnung stiftend – schön magazinig eben. Doch wie? Man flachst, scherzhaft fällt die Aufforderung „Dann geh doch!“ Gesagt, getan.

Krachend fällt die Bürotür ins Schloss. Gemeinsam mit dem Straßenlärm erzeugt das Geräusch ein widerwärtiges Brummen in meinem Kopf. Ja, ich bin verkatert. Ja, selbst schuld – aber das hilft mir jetzt auch nicht weiter. Vielleicht waren die gestern gemeinsam mit meinem Chefredakteur geleerten Weinflaschen doch keine so brillante Idee. Aber gestern hielten wir es für einen genialen Einfall.

Çağla und ich gehen die Celler Straße entlang und biegen hinter der im Sonnenschein leuchtenden Stadthalle in eine Seitenstraße ein. Während die Strahlen der Sonne mein Gesicht leicht prickeln lassen, schiebe ich mir die Sonnenbrille vor die Augen. Mit verdunkelter Sicht brummt mein Schädel weniger.

„Gestern war es noch so ekelig grau“, erinnert sich unsere KURT-Fotografin. „Und jetzt herrliches Wetter!“ Sie strahlt. Die Sonne strahlt. Und ich runzle die Stirn. Fast wäre ich falsch abgebogen. Der Verkehrslärm nimmt merklich ab, während wir an der Aller-Schule vorbeigehen. Wir gelangen an die Holzbrücke über die Aller, die zur Flutmulde führt. Aber ich biege rechts davor ab und schlage den Trampelpfad am Ufer entlang ein. „Oh, hier war ich noch nie“, staunt Çağla. „Früher sind wir hier oft mit unserem Hund spazieren gegangen“, erkläre ich. Die Erinnerung lässt mich trotz Schädelbrummen grinsen.

Verschnaufspause: Voller Körpereinsatz und ein mörderisch mieser Kater schlauchen Marieke bei ihrem Ausflug an die Aller. Doch durch die frische Gifhorner Luft beflügelt, ersinnt sie neuen Schabernack.

Foto: Çağla Canıdar

Wir betreten den Uferweg, die Nachmittagssonne scheint im perfekten Winkel durch die Äste der Bäume am Wasser. Als erstes laufe ich zum Fluss und halte meine Hand ins Wasser. Es ist bitterkalt. Dann schlendern wir einfach ein wenig. Rechts von uns können wir in die Gärten der Anwohner linsen – machen wir natürlich nicht. Links von uns fließt das charakteristisch braune Allerwasser still dahin. Von der anderen Uferseite klingt gedämpftes Hämmern. Aber das Geäst ist zu dicht, um etwas zu erkennen.

In Erwartung auf das Echo des Hämmerns in meinem Kopf halte ich kurz die Luft an – doch ich fühle nur das altbekannte Brummen. Erleichtert nehme ich einen tiefen Atemzug. Und da spüre ich es. Meine nikotingeplagten Lungen plustern sich auf, meine Nase kribbelt. Da ist er, mein Lieblingsgeruch: diese ganz besondere Mischung aus Wald und Wasser, Holz und grünem Gras.

Und Gifhorn. Klingt bescheuert, ist aber so. Ich bin der festen Überzeugung, dass jede Stadt ihren eigenen Geruch hat und für mich riecht Gifhorn einfach immer ein bisschen nach Wald. Ich finde, Gifhorn duftet moosgrün.

Die Erinnerung an Hundespaziergänge, die Sonne und die Gifhorner Luft lösen eine Kettenreaktion bei mir aus. Während Çağla schon die Kamera in der Hand hat und das Glitzern des Lichts auf der Aller einfängt, berichte ich zunehmend vergnügt von meinen Plänen für diesen Artikel. „Am Ende soll so ‘ne Bewertung mit Sternchen nach den wichtigsten Spaziergang-Kategorien stehen“, sprudelt es aus mir heraus. „Und dazu gehören auch Kletterbäume“, betone ich überzeugt.

„Na viel Spaß, da steht einer“, meint Çağla und deutet grinsend auf einen Baum, der leicht schräg über den Fluss ragt. Voller Vorfreude laufe ich drauflos, doch bald muss ich zwei Dinge feststellen. Erstens: Ich bin aus der Übung. In Ermangelung einer besseren Idee oder stärkerer Äste gebe ich dem Baumstamm eine herzliche Umarmung und wuchte mich an ihm entlang, weiter auf den Ast über dem Wasser. Zweitens: Klettern ist eine feine Sache – aber gestaltet sich in der Ausführung doch deutlich einfacher, wenn man einen kleinen Kinderkörper durch die vielen kleinen Äste manövrieren muss. Doch schließlich habe ich eine akzeptable Fotoposition erreicht und versuche mein Gleichgewicht, das Festhalten und ein nettes Gesicht unter einen Hut zu bringen.

Dies scheint mir geglückt, denn Çağla senkt die Kamera und schaut mich erwartungsvoll an. Alles klar, jetzt kommt der Rückweg. Für den brauche ich etwas länger. Denn zum einen habe ich es irgendwie geschafft, meinen Dutt auf einem dieser vielen blöden kleinen Piekse-Äste aufzuspießen. Zum anderen fällt die Umarmung des Baums diesmal etwas länger und fester aus. Weil mir auf einmal durch den Kopf schießt, dass das Flusswasser unter mir bitterkalt ist.

Doch ich schaffe es ans Ufer ohne nass zu werden. Die Gifhorner Brise, die Sauerstoffflut und der herzerwärmende Sonnenschein pusten die metaphorischen Gewitterwolken aus meinen Gedanken und mein Hirn dreht das nervige Brummen ein wenig leiser, bis es nur noch ein leichtes Summen ist. Boah, tut das gut! Kurz schließe ich die Augen.

„Schau mal, der ist auch schön gewachsen“, meint Çağla in diesem Moment und deutet auf einen Baum, der tatsächlich noch weiter über den Fluss gewachsen ist als mein erster Kletterbaum. Sein leicht mit Moos gesprenkelter dickster Ast reckt sich in einer graziösen Biegung gen Sonne. Ich will auf diesen Baum rauf. Und ich habe eine Idee.

Vorsichtig platzierte Schritte, wieder eine Baumumarmung und ich hocke etwas verdreht auf der anderen Seite des Stammes, vor mir streckt sich mir der Ast entgegen. Von Nahem sieht das Moos noch satt-grüner, noch gemütlicher aus. Langsam versuche ich, meinen linken Fuß auf der einen Seite des Astes über dem Wasser baumeln zu lassen, während ich mich mit beiden Händen weiter festkralle und den rettenden Halt des rechten Fußes nicht verlieren darf.

Die fatalen Folgen geschlossener Fitnessstudios: KURT-Mitarbeiterin Marieke Eichner entkommt der Eröffnung der Badesaison nur mit viel Glück.

Foto: Çağla Canıdar

Einige sicher nicht graziöse Biegungen später liege ich mit dem Bauch auf dem Ast, mein linkes Bein habe ich erfolgreich zum Baumeln gebracht, aber den rechten Fuß brauche ich doch noch zum Abstützen. Dafür lasse ich jetzt einfach meine Arme fallen. Mein innerer Schamane wusste es schon immer: Mein spirituelles Krafttier ist ein Faultier.

Und so hänge ich also ein bisschen in Gifhorn ab. Verwundert stelle ich fest: Die Liegeposition ist erstaunlich gemütlich. Die Spitze meines linken Stiefels berührt gerade so das Wasser und mein unkoordiniertes Rumgebaumle sendet kleine Wellen über die Oberfläche. Ich könnte auch noch ein Weilchen hier hängen bleiben und einfach das leise Rauschen der Aller genießen. Aber Çağla hat ihr Foto gemacht, also muss ich den Rückweg in Angriff nehmen. Nur wie? Probeweise stütze ich meine Hände auf den Stamm unter mir und stemme mich in die Höhe. Nein, so wird das nichts, der Winkel passt nicht. In einer leicht veränderten Liegestützposition versuche ich mit dem rechten Fuß besseren Halt zu finden, um dann mein linkes Bein über den Stamm zu schwingen. Das sieht wohl ziemlich lustig aus, denn schräg hinter mir höre ich Çağla laut lachen. Beinahe habe ich mein Bein über den Stamm bekommen, nur mein Fuß fehlt noch – da verkeilt sich mein Stiefel in einer Astgabelung. Äußerst vorsichtig – damit ich nicht nach hinten überkippe und ein Bad in der Aller nehme – wackle ich mit den Zehen und versuche mich zu befreien. Aber keine Chance, ich stecke fest. Scheiße!

Vermutlich war es keine brillante Idee mein inneres Faultier herauszulassen. Höchstwahrscheinlich sogar war es ein echt dämlicher Einfall – vor allem wenn ich am Ende meiner Befreiungsaktion in der eiskalten Aller schwimmen sollte. Ein ebenso dämlicher Einfall wie die Flaschen köstlichen Grauburgunders am gestrigen Abend. Doch die waren es mir wert – ich hatte Spaß. Genauso wie jetzt, als ich ob meiner absurd verdrehten Position und meiner scheinbar ausweglosen Situation einfach losprusten muss. Ach was soll‘s. Vielleicht war es eine blöde Idee – aber ich bin glücklich.

Etwas aus der Puste – aber trockenen Fußes – kehrt Marieke Eichner schließlich unverletzt in die KURT-Redaktion zurück.

Foto: Çağla Canıdar

Mein Lachanfall scheint eine Anspannung in meinem Körper gelöst zu haben, denn glücklicherweise bekomme ich meinen Fuß aus der Astgabel und kann mit letzter Kraft zurück ans rettende Ufer kraxeln. Selbst als Çağla und ich an unseren Büroräumen ankommen, grinse ich immer noch heiter vor mich hin. Als wir die Tür öffnen, steht mein Chef mit kopfschmerzverzerrtem Gesicht im Vorraum. „So“, sagt er mit Nachdruck. „Jetzt gibt’s erst mal Sachertorte.“

Sonne ★★★☆☆
Luft und Geruch ★★★★★
Geräuschkulisse ★★★★☆
Kletterbäume ★★★★★
Menschenfrei ★★★★☆
Farbenpracht ★★★☆☆
Wegbiertauglich ★★☆☆☆


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