Kopfüber

Kopfüber: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld bewusstseinsströmt über deutschen Verkehr und das 49-Euro-Ticket

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 29.10.2022
Kopfüber: KURT-Kolumnist Malte Schönfeld bewusstseinsströmt über deutschen Verkehr und das 49-Euro-Ticket

Oftmals-Zugfahrer und KURT-Kolumnist Malte Schönfeld findet: Ohne gute Erklärungen im Voraus fliegen bei der Einführung eines 49-Euro-Tickets wieder die Fetzen – und reihenweise Kündigungen im ohnehin skelettösen Nahverkehrskollegium.

Foto: Pixabay

Die Ausnahmesituation am Gleis hat sich beruhigt und auch das letzte protestantische Hihi über Bahn-und-Sylt-Witze ist zurückgebaut – dann lassen Sie uns doch ein bisschen über unseren Verkehr bewusstseinsströmen.

Verkehrsminister Volker Wissing bleibt gradlinig: Anfang 2023 soll es das Sequel zum 9-Euro-Ticket geben, der Bund möchte sich in der Hauptrolle wohl mit 1,5 Milliarden Euro beteiligen, wenn die Länder mitziehen, und die Bürgerinnen und Bürger sollen bei Interesse zwischen 49 bis 69 Euro berappen. So sieht progressive FDP-Politik denn aus: Mobilität hängt an der Freiheit dran.

Dünkirchen in Frankreich, die estnische Hauptstadt Tallinn, ganze Länder wie Luxemburg und Malta – das Null-Euro-Ticket geht da sogar noch einige Schritte weiter. Bei uns aber mahnen Gewerkschafter noch vor der Null-Bock-Stimmung nach dem 9-Euro-Ticket. Viele Mitarbeiterinnen der Bahn fürchten nun, nach der nötigen Kur frisch erholt vom nächsten Aktenkofferträger in der 1. Klasse angebrüllt zu werden, sollte Wissings Plan aufgehen.

Klar ist: Möchte man bei der Einführung eines gehandelten 49-Euro-Tickets nicht reihenweise Kündigungen im ohnehin skelettösen Nahverkehrskollegium provozieren, muss man sich diesmal um gute Erklärungen im Voraus bemühen. Denn sonst fliegen wieder die Fetzen.

Dass unsere Gesellschaft mobiler wird, das liest man immer wieder. Au-pair in Auckland, Studium in Bournemouth, Sprachkurs in Barcelona. Doch das ist nicht die Mobilität, die das 49-Euro-Ticket ermöglichen soll. Auckland ist häufig geerbte Mobilität. Kein böses Blut gegen Reiche, nur eine Feststellung. Je reicher man ist, desto mehr sieht man eben auch. Affig wird‘s bloß, wenn man unter Mobilität den Star Alliance Club und Vielfliegerei versteht.

Wie das Vorgängermodell soll auch das 49-Euro-Ticket mehrere Dinge vereinen, nicht zuletzt aber das Bewusstsein fürs Gleis schärfen. In einer Volkswagen-Porsche-Audi-Mercedes-BMW-Opel-Nation schwierig. Dabei stehen Parkhäuser auch in Gifhorn weitestgehend leer, gleichzeitig wird über die fehlende Attraktivität der Innenstädte diskutiert. Ich lege Ihnen diesen Vergleich hier einfach nur mal so hin, liebe Leserinnen und Leser. Können Sie mit machen, was Sie wollen.

Aus der eigenen Erfahrung kann ich Ihnen sagen: Das Zugfahren im Landkreis Gifhorn ist über die Strecke Braunschweig-Uelzen eine Katastrophe. Teilweise fielen im Sommer die Hälfte der Regios aus, mitunter ohne Achtung-Achtung am Gleis oder Nachricht in der App. Und auch im Winter wird es die Ausfälle wieder geben, wenn die Gefrusteten und Krankgeschriebenen nicht zum Dienst erscheinen können. Wer bewegt dann Gifhorn, wer bewegt Deutschland? Oberleitungsstörungen und umgekehrte Wagenreihung nicht mal hinzugenommen.

Trotzdem bin ich ein Fan vom 9-Euro-Ticket – und werde auch Befürworter eines Nachfolgers sein. Mobilität hängt an der Freiheit mit dran. Gerechtigkeit hat auch etwas damit zu tun, wie viele Kilometer Weg ich mir in einer überverbundenen Welt überhaupt leisten kann. Frage: In welchem Universum sind 12,20 Euro für die Strecke Gifhorn-Braunschweig und zurück da eine faire Angelegenheit?

Es gibt Menschen, die können sich nichts leisten. In Deutschland. Nichts. Sie sind nicht Teil unserer traumhaften United-States-of-Europa-Vision, mit frei gehandeltem Chicken Teriyaki und Erasmus in Turin. Denn sie können sich nicht das Ticket nach Uelzen oder Braunschweig leisten. Und deswegen muss man so lange über gerechte Mobilität sprechen, bis der öffentliche Nahverkehr kostenfrei ist.


Coole Leute gesucht – wir stellen ein!

Informiere Dich über Jobs in unserem Medienhaus! Wir sind auf der Suche nach tollen Menschen, die bei uns einsteigen möchten.

Mehr erfahren