Altstadtfest in Gifhorn

Durch den Glitzervorhang in eine andere Sphäre - Altstadtfest-Rückblick: So war das damals in Gifhorns sagenhafter Zickengasse

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 16.08.2023
Durch den Glitzervorhang in eine andere Sphäre - Altstadtfest-Rückblick: So war das damals in Gifhorns sagenhafter Zickengasse

Jahrzehntelang begeisterte die Bühne in der Zickengasse die Altstadtfest-Besucher. Doch zuletzt mehrten sich die Reibereien und Polizei-Einsätze. Diese Aufnahme stammt von 2013, dem letzten Jahr in der Zickengasse.

Foto: Privat

Heutzutage mag man sich das gar nicht mehr vorstellen, doch es gab Jahre, da war es die größte Herausforderung des Gifhorner Altstadtfestes, in die Zickengasse zu gelangen. Von hinten, von vorne – keine Chance. Und irgenwo in der Mitte stand die Bühne. Hunderte Menschen standen sich gegenseitig auf den Füßen, balancierten ihre Getränke auf Kopfhöhe. Vor 10 Jahren lief auf der Zickengassen-Bühne das letzte Mal Musik. KURT sprach deswegen mit Volker Schlag und Kian Rohde, die nicht nur das Altstadtfest bereicherten, sondern auch die Zickengasse selbst erfanden.

Am Anfang dieser langen Geschichten steht das Sandwich. Das französische Sandwich. Denn die Geschichte der Zickengasse startet 1995, in dem Moment, als Volker Schlag den Croque Point kauft. Schnell wird der umgebaut und aufpoliert, genauso wie das Büro nebenan. Ein kleines Café für Schülerinnen und Schüler soll es werden, junges Publikum, coole Musik, kleine Preise. Das Musikcafé ist geboren.

Noch während der 28-Jährige mit den Hounddogs und der legendären Rock-Band Rudolf Rock & die Schocker auf Tour ist, lässt er montags andere Leute den Laden schmeißen. Die 90er sind auch die Jahre des Techno, und die Loveparade in Berlin 1995 versammelt unter dem Motto „Peace on Earth“ 500.000 Raver. Gefeiert wird tagelang, das ist beim Techno manchmal so.

Manche Partys, die am Freitag starten, laufen am Montag immer noch. Und für diese After Hour, also die Zeit, die zum kollektiven Runter- und Klarkommen gedacht ist, kommen die Raver nach Gifhorn. „Plötzlich waren 400 Leute in der Gasse“, erinnert sich Volker, alle total entspannt, eben gut drauf, doch trotzdem entsprechend laut. Die Polizei wird aufmerksam, beendet die Partys erwartbar rabiat.

In den ersten Jahren der Zickengasse formierte sich die Musikcafé-Orchesterband im, nun ja, Musikcafé, spielte später aber auch im Panoptikum von Kian. Auch auf dem Altstadtfest rockten sie traditionell.

Foto: Markus Thies

Später erfährt er von der Polizei, dass Gifhorn nach Wolfsburg und Frankfurt am Main der größte Drogenumschlagplatz in der Republik ist. Und einen Zusammenhang mit den Techno-Montagen im Musikcafé kann man nun nur schwerlich leugnen. „Ich bin da sehr naiv gewesen, weil ich selbst auch nie etwas mit Drogen am Hut hatte“, seufzt Volker. Ein Cut muss her, die Dealer im Laden werden an die Polizei ausgeliefert, die Gasse ist nun ordentlich beschmutzt. Der Nullpunkt.

Als Kian Rohde, damals noch Badachschan, 1996 von Braunschweig nach Gifhorn umzieht, steht er vor einer Lebensfrage: Will ich das, was ich studiert habe, nämlich Elektrotechnik, weitermachen? Oder eher das, was nebenbei so viel Freude bereitet hat? „Ich hatte mich während des Studiums mit Kneipenjobs ernährt, das hatte mir viel Spaß gemacht“, blickt er zurück. Der damals 30-Jähige entscheidet sich für Letzteres. Und trifft in der Zickengasse, wie sie inzwischen heißt, auf Volker. Von dem stammt auch der Name sowie das Schild, das heute noch in der Cappucabana musealisiert.

Volker Schlag ist in kurzer Zeit irgendwie das Unmögliche gelungen – aus der Drogenhölle mit den Acid-Partys ist tatsächlich ein Szenetreff für die Gifhorner Musikliebhaber geworden. Es bildet sich die Musikcafé-Orchesterband bestehend aus Gitarre, Saxophon, Kontrabass und Schlagzeug. „Total geil, ohne Verstärkung. Wir haben anfangs auf dem Tresen gesessen, später tropfte dann der Schweiß von der Decke“, meint Volker. Aber genau das möchten die Gifhornerinnen und Gifhorner sehen – Live-Musik, Freundschaft, Arm in Arm.

Kian übernimmt das Musikcafé im Laufe des Jahres 1996. Damit ist auch seine Entscheidung gefallen, wie das mit der Elektrotechnik weitergeht – nämlich gar nicht. Kurz darauf übernimmt er auch noch nebenan den ehemaligen Klassik-Pub. Hier entsteht das Panoptikum, oder kurz: das Pano.

Ganz am Anfang sah die Zickengassen-Bühne noch nicht so aus wie zum Schluss. Fleißig am Tanzen: Volker Schlags Sohn Billy Ray.

Foto: Privat

„Viele Leute haben bei uns eine Heimat gefunden und wurden aufgefangen“, glaubt Kian. In der Zickengasse treffen sich Schüler wie Tevesianer, die gerade von der Schicht kommen und noch was in Gang bringen wollen. „Wein, Bier, Milchkaffee – das haben die Leute in Braunschweig getrunken. Hier habe ich dann ein völlig anderes Trinkverhalten kennengelernt. In Gifhorn gab‘s Hartgas. Wie viele Bacardi-Cola-Tabletts über die Theke gegangen sind – nicht zu glauben.“

Es ist ein wenig das Zusammenspiel der beiden Kräfte, was diese Anziehung erklärt. Mit Kian hat die Zickengasse einen Gastronom gefunden, der den Zeitgeist der Gifhorner zwischen 16 und 40 versteht. Und Volker erobert zusammen mit der Musikcafé-Orchesterband die Bühne, die es mittlerweile nicht mehr nur auf dem Kneipentresen zu finden gibt. In diesen Jahren werden auch die Organisatoren des Altstadtfestes auf die Energie der Zickengasse aufmerksam – und zum ersten Mal wird eine Bühne erlaubt. Noch ist sie klein, doch im Folgejahr wächst sie mit dem Publikum.

Zu Beginn fand sich auf dem Altstadtfest noch eine kleine Zickengassen-Bühne. Doch selbst da rockten Volker, Kian und die Musikcafé-Orchesterband schon zusammen.

Foto: Privat

„Wir wollten für diejenigen einen Treffpunkt schaffen, die vielleicht schon gar nicht mehr in Gifhorn waren. Damals hatte ja niemand ein Handy, dann hieß es einfach: Altstadtfest, Freitag, 22 Uhr in der Zickengasse“, erläutert Kian. Die Zickengasse entwickelt sich zum Anlaufpunkt für Junggebliebene, Twens und Teens – eine auf dem Festgelände einzigartige Dynamik. „Manchmal entsteht sowas und man hat es gar nicht forciert“, erklärt er.

Am Sonntagabend, wenn andernorts die ersten Bühnen schon wieder abgebaut werden, fährt die Musikcafé-Orchesterband noch mal volle Lotte auf. In der Zickengasse ist nämlich noch lange nicht Sendepause. „Alle waren ausgepowert, alle waren ausgelaugt. Aber das war noch mal Rock‘n‘Roll bis die Haare bluten“, lacht Kian. Und Volker ergänzt: „Das war auch von der Stadtverwaltung erlaubt.“ Später etabliert sich dieser Programmpunkt unter dem Namen „Volker and Friends“. „Eine Sessionband, wo alle, die noch Bock haben und können, mitmachen“, fasst Volker zusammen.

In den folgenden Jahren ist die Zickengasse Zufluchtsort für viele Gifhornerinnen und Gifhorner. Wer abends was unternehmen möchte, landet nicht selten in der Zickengasse. Auch andere Kneipen und Bars wie Bierdorf, Clou und Malibu laufen regelrecht heiß. Speziell für diejenigen, die auf Live-Musik abfahren, ist aber die Zickengasse gefragt.

Volker Schlag und NDW-Star Fräulein Menke: Auch die eine oder andere berühmte Persönlichkeit zog es in die Gifhorner Zickengasse.

Foto: Privat

Ob im Musikcafé oder im Panoptikum, dicht drängen sich zu den Stoßzeiten die Gäste. Das Musikcafé soll eher die 16- bis 30-Jährigen ansprechen und hat natürlich auch schon tagsüber geöffnet. Es gibt sogar Frühstück. Im Pano verkehren dagegen eher im Leben stehende und Senioren. Beliebt ist es auch bei den Gifhorner Schützengruppen, manches Mal treten Showbands auf. In den Pano-Sessions bildet sich die Gifhorner Band Soul Generation, Mitglieder der NDW-Band Extrabreit treten genauso auf wie Tina Turners Bassist T.M. Stevens.

Doch wie so die Jahre ins Land ziehen, ändern sich natürlich auch das Publikum und der Anspruch. Im Laufe der 2000er ist andere Musik gefragt als Kian in seinen Läden gerne spielen möchte. „Und außerdem steht und fällt es immer mit dem Personal. Irgendwann hätte ich mich zweiteilen müssen. Da wurde es zu viel. Dann heißt es: Aussteigen – oder man stirbt mit dem Laden.“ 2008 geht er vollständig raus aus der Zickengasse, hilft dafür aber beim Aufbau des Alt Gifhorns an der Celler Straße.

In der Zickengasse folgen neue Gastronomen. Und die Bühne auf dem Altstadtfest bleibt noch bis 2013. Dann entscheidet die Stadtverwaltung: zu viele dunkle Ecken, zu viele lichtscheue Gestalten, zu viele Polizei-Einsätze. Zuerst wandert das Bühnenprogramm zu Schütte, später an den Brunnen, wo es auch heute noch zu finden ist.

Es wühlt heute noch in Volker, wenn er zurückdenkt – speziell an die beschissene Anfangszeit: „Für jede schöne Erinnerung gibt‘s da auch eine brutale Scheiß-Erinnerung.“

Doch mit den Jam-Sessions im Musikcafé entwickelte sich alles doch noch zum Guten. Bis hin zu den legendären Altstadtfest-Tagen. „Das war ein anderer, einmaliger Vibe. Es war so, als würde man am Anfang der Gasse einen Glitzervorhang zur Seite ziehen und dahinter eine andere Welt, eine andere Sphäre betreten“, umschreibt es Volker.

Und ganz nebenbei ist da eine für Gifhorn nicht ganz unerhebliche Freundschaft entstanden.


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