Kunst

Das Staunen über die Provinz ist geblieben: Mit „Rauhe Nächte“ führt der Künstler Jochen Weise eine spannende Werkserie zum Leben auf dem Land

Malte Schönfeld Veröffentlicht am 06.04.2024
Das Staunen über die Provinz ist geblieben: Mit „Rauhe Nächte“ führt der Künstler Jochen Weise eine spannende Werkserie zum Leben auf dem Land

Am Zeichentisch. Dort, wo er schon als Bursche hinwollte: Jochen Weise im Künstlerhaus Meinersen an der Arbeit für „Rauhe Nächte“.

Foto: Kateryna Tkachenko

Zum Vater aufschauendes Kind, Bandarbeiter, Torwart, galanter Bierzapfer, Galerist, Fahrradfahrer durch Tibet – Jochen Weise, geboren 1946, war schon vieles in seinem Leben. Gerade, und das schon seit längerem, ist er Künstler und Künstlerischer Leiter im Künstlerhaus Meinersen. Neben den Langzeit-Projekten „Cambium“ und „Vicinity“ arbeitet er nun an „Rauhe Nächte – 366/2024“. Seit Jahresbeginn erkundet Jochen Weise damit nicht nur seine unmittelbare Umgebung, sondern nutzt erstmals auch Instagram als digitale Galerie. Zu erkennen sind Vergangenheit und Gegenwart der Provinz, und seltenerweise wird die Politik nicht instrumentalisiert.

Was man über Jochen Weise sagen kann: Der Mann hat sich das Staunen bewahrt. So scheint es auch, dass eine fast kindliche Neugier ihn nun zum Jahresprojekt antreibt. Und die Tatsache, dass die titelgebenden Rauhnächte zwischen Weihnachten und der Epiphaniasnacht am 6. Januar zuletzt mit einer Schwermut überzogen wurden, die Jochen Weise nicht geahnt hatte. Anlass genug, um durch Arbeit zurück ins Tun zu kommen – der Prozess als Selbstzweck, an dessen Ende schon das Kreative warten wird.

Aufgewachsen ist Jochen Weise in Gleichen bei Göttingen. „Ich habe die ersten 14 Jahre meines Lebens auf dem Land verbracht und ein großes Entdeckungs- und Erlebnisfeld vorgefunden“, erzählt er. Wenn er Verwandte in Göttingen besuchte, kam ihm alles unheimlich beengt vor. Als er einen städtischen Spielplatz sah, schoss ihm der Gedanke durch den Kopf: Menschenzoo. „Ein abgesperrtes Areal. Mütter saßen auf der Bank und passten auf, dass nichts passierte. Und wenn jemand auf den Baum klettern wollte, wurde er runtergescheucht.“ Das freie Toben und Klettern auf dem Land lag Jochen Weise mehr, das Helfen bei der Ernte auf den Bauernhöfen. „Alles war so haptisch, so ideenreich und vielfältig.“

Für seine Werkserie „366/2024“ zeichnet und malt Jochen Weise täglich, das Ergebnis lädt er auf Instagram. Jede Zeichnung ist für 150 Euro zu erwerben.

Foto: Jochen Weise

Schon mit 12 Jahren kam ihm der Wunsch, Künstler zu werden. Und das lag am Vater. „Er war Anstreicher, an den Wochenenden malte er aber auch Bilder. Es roch immer so lecker nach Leinöl und Ölfarbe. Er war zu Hause, er war kein Kneipengänger, er war für die Familie da und hat sich – wie ich das als Kind schon spürte – einer ganz eigenen, auf sich bezogenen Arbeit hingegeben und war damit völlig ausgeglichen.“ Daneben ist es der Sport, der Fußball beim SC Göttingen 05, an den sich Jochen Weise liebend gern erinnert. Viel später sollte er noch immer spielen, erst bei Hannover 74 und zum Schluss auch beim SV Meinersen.

Früh hat Jochen Weise allerdings eine Familie zu versorgen, arbeitet deswegen als junger Erwachsener und gelernter Werkzeugmacher am Band bei Sartorius in Göttingen. Als er es per Ausnahmeprüfung an die Fachhochschule in Hannover schafft und im Anschluss an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig unter Professor Malte Sartorius lernt, ist er schicht-
erprobt und älter als viele der begüterten Kommilitonen, die sich an Agitationskunst mit Arbeiterfäusten probieren. Er zapft in einer Kneipe und kauft sie später und eröffnet einen Straßenzug weiter eine Galerie. Es folgen Stipendien, wovon ihn eines 1987 sogar ins gerade erst für Touristen geöffnete China und nach Tibet führt. Kurz darauf ist es dann das Stipendium der Niedersächsischen Sparkassenstiftung, durch das Jochen Weise Meinersen kennenlernt. Er bleibt für mehrere Jahre. Genauso wie 2013, als er in Meinersen die Künstlerische Leitung des Künstlerhauses übernimmt und in die freie Atelierswohnung zieht.

Jochen Weise arbeitet für seine neue Serie täglich neue Motive aus.

Foto: Jochen Weise

Es ist einiges passiert seit den Kindheitstagen, dem Spielen im Heu, den aufgewetzten Knien und dem Geruch der Ölfarbe seines Vaters. Doch vieles von dem, was Jochen Weise heute zeichnet und malt, hat damit zu tun. Ist das Heimweh? „Nein“, sagt er. „Es ist eher eine Form des Sich-gerne-Erinnerns. Es ist ein Wohlfühlmoment. Ich bin gerne auf dem Dorf. Ich mag es, dass sich unterschiedliche Gruppierungen bilden, die so das Gemeinwesen ausmachen. Wie Funktionsgruppen. Auch das Vereinswesen hält das Dorf zusammen. Am Ende puzzelt sich alles zusammen.“

Und da bricht der künstlerische Horizont so richtig auf, wenn man sich mit den Zeichnungen von „Rauhe Nächte“ beschäftigt, die weitestgehend mit Graphitstift und seltener als Aquarell entstanden sind. Man erkennt sie wieder, die schweren Gatter, die ausgehängten Türen und die zusammengebundenen Getreidegarben. Demgegenüber der technologische Fortschritt, die Ernte-Maschinen, die wie Raumschiffe aussehen, die leuchtenden Silos. Die Provinz ist immer noch Provinz, doch nicht mehr ganz Peripherie. Kaum eine Branche, die früher so von Körperkraft gezeichnet war, ist so am aktuellen Limit angekommen – sowohl was die Produktionsmittel als auch die Produktionsmenge anbelangt. Bis zu dem Punkt, wo der Boden nicht mehr kann. Und die Provinz dann droht, wieder zur Peripherie zu werden.

Stilistisch und motivisch erwartet Jochen Weise von sich selbst Abwechslung in der neuen Werkserie. Bisher handeln alle von der Peripherie und der Provinz.

Foto: Jochen Weise

Jochen Weise nimmt das alles wahr – und zeigt es trotzdem manchmal nicht. Diese Erkenntnisse schweben auch zwischen den täglich wechselnden Motiven; man darf sie aus der Luft fischen wie ein Kind den Schmetterling mit dem Kescher – oder man lässt sie dort, wo sie sind, und erfreut sich bloß an der unbändigen Neugier des Malers.

Geplant ist eine Ausstellung, genaue Daten gibt es noch nicht. Bis dahin lässt sich ansonsten jede Zeichnung für 150 Euro pro Stück erwerben.


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