Kunst
Anja Warzecha kann Unsichtbare sprechen lassen: Am Samstag startet ihre Ausstellung „A Sense of Place“ im Künstlerhaus Meinersen - Vernissage am Freitagabend
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 28.05.2023
Ein Jahr lang lebte Anja Warzecha als Stipendiatin im Künstlerhaus Meinersen. In dieser Zeit ist auch das Triptychon in Anlehnung ans Gifhorner Kavalierhaus entstanden.
Foto: Bastian Till Nowak
Wie viele Menschen können in einem Bild zu Wort kommen, ohne dass sie zu sehen sind? Das ist vielleicht die dringlichste Frage, die man sich stellt, wenn man die personenbefreiten Malereien und Zeichnungen von Anja Warzecha betrachtet. Die 33-Jährige lebte ein Jahr lang als Stipendiatin im Künstlerhaus Meinersen, am 2. Juni findet die Vernissage zu ihrer Ausstellung „A Sense of Place“ statt. Und wie der Titel schon sagt: Im sichtbaren Zentrum ihrer Arbeiten steht das Ortsgefühl, eigentlich die Geschichte eines Ortes, die jeder Betrachter und jede Betrachterin anders liest, wenn die unsichtbaren Gestalten zu sprechen beginnen.
Ungefähr einen Monat vor Ausstellungsbeginn sind schon mehrere Räume im Künstlerhaus inszeniert. Im Salon fallen einige Zeichnungen auf, die einem merkwürdig vertraut vorkommen, wenn man vorher durch Meinersen gefahren ist – sie zeigen Vorgärten, Wohnhäuser, Ziegelfassaden, Glausbausteine. Im rechten Flügel türmt sich dagegen ein mannshohes Triptychon auf, ein imposantes Werk, eine Stube mit überlappenden ornamentalen Teppichen, gemusterten Tapeten, Schirmlampen, verzierten Sesseln, Beistelltischchen aus einer anderen Zeit. „Dass es so fein und detailreich geworden ist, ist etwas Neues“, sagt Anja Warzecha, während sie durch die Räume führt. Und noch etwas anderes Neues hat sich im Stipendium herausgebildet.
In Kürze: Anja Warzecha ist 1989 in Bochum geboren, malte und zeichnete in einem Zirkel, wurde vom betreuenden Künstler gefördert, stellte eher mal so und spielerisch als ambitioniert zukunftsschwer eine Mappe zusammen, reichte die nach dem Abitur bei der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle ein, wurde angenommen. 2014 schloss sie mit Auszeichnung ab.
Istanbul, Nepal, Taiwan, Leipzig – die Liste der Stipendien ist lang. Anja sagt über ihre Reisen: „Jeder Ort hat sein eigenes Bild, was er als Gesamtheit abgibt. Ich habe über die Jahre große Sammlungen an kleinen Details, an Strukturen, an Rhythmen angelegt, wie ein Ort funktioniert. In Taiwan waren es kleine Fliesen an den Fassaden, die man hier nie finden würde. Oder es sind in Vietnam ganz schmale Häuser. Farben, Werbungen, alles was dazugehört. Diese Unterschiede finde ich spannend.“
Eine von mehreren Zeichnungen, die Anja Warzecha in Meinersen angefertigt hat. Die Hauseigentümer möchte sie zur Ausstelung einladen.
Foto: Rüdiger Rodloff
Zurück nach Meinersen und zurück zu dem, was sich verändert hat. Noch während des Studiums platzen ihre Arbeiten nur so vor Naturzusammenhängen: knallgrünes Blätterwerk, Farne, Lianen, doch auch Steine, dunkle Kristalle, Eiswelten. Später kommen die Architekturen dazu, die Zäune, Treppengeländer, Balkone, Fensterrahmen – die Natur weicht dem Bau. Nun ist es so, dass diese beiden Welten – oder eher: die Fragmente dieser beiden Welten – zum ersten Mal aufeinandertreffen.
Ereignisreich geschieht dies bei einem Gemälde gefertigt aus Acryl, Kohle, Buntstift und Marker in der Größe 180 mal 220 Zentimeter, bei dem man mehrere Male hinschauen muss: Zwei Dimensionen sind zu erkennen, vorn eine beinahe urwaldartige Pflanzenwelt, Gerank und Sukkulenten, überzogen von Gardinen. Dahinter tauchen Gebäudestrukturen, eine breite Fensterfront, das Werbeschild eines Lokals auf. Unverkennbar: das Gasthaus Niebuhr in Meinersen, das seit Jahrzehnten so wichtig für das Selbstverständnis dieses Dorfes ist.
Reflektionen nennt Anja diese Arbeiten, bei denen sie auf der einen Straßenseite in ein Schaufenster schaut, ein Foto macht und die andere Straßenseite automatisch gespiegelt wird. Man könnte auch sagen: Es sind Scheibenwelten, in denen Reibereien zwischen den einzelnen Dimensionen ausbrechen um die Erlaubnis, im Vordergrund stehen zu dürfen.
Architektur trifft auf Natur: Diese Reflektion ohne Titel ist im vergangenen Jahr im Künstlerhaus Meinersen entstanden. Die Künstlerin Anja Warzecha blickte dafür in ein Schaufenster auf der Hauptstraße.
Foto: Rüdiger Rodloff
„Ich habe schon immer in einer collagierenden Art und Weise gearbeitet. Es geht mir viel um die Darstellung von Materialität im Kontrast zu etwas anderem, wenn ich dann bestimmte Bildbereiche heraushebe oder absetze und für alles eine neue Form finden muss“, beschreibt Anja. Menschliche Körper oder Personen hätten sie dabei noch nie interessiert, was eine ihrer großen Stärken ist. „Ich habe mich immer für Fragmente interessiert, und wenn ich mit Körpern arbeiten würde, würden mich die Fragmente von Körpern interessieren. Was meine Arbeiten immer in sich haben, sind die genutzten Lebensräume. Ich befasse mich mit etwas, was Menschen gemacht haben, wo sie stattfinden oder stattgefunden haben. Die Spuren sind immer da. Aber wenn man den Menschen zeigt, ist das direkt eine Identifikationsfigur im Bild.“
Besonders deutlich wird das bei einer Arbeit über einen Plattenbau in Halle, die an Fotografien von Andreas Gursky erinnert, und dem eingangs erwähnten dreiteiligen Gemälde-Komplex, das den Titel „Gute Stube“ trägt und die Museumswohnung im Gifhorner Kavalierhaus zeigt. „Ich war als Touristin dort. Ich mag diese Wohnräume, sie sind einzigartig“, sagt Anja. „Das ist komprimierte Geschichte, die spürbar ist und nachvollziehbar wegen der Details. Die Petroleumlampe da wurde umgerüstet auf Elektrik, und daneben liegt die Rechnung, die das belegt. Man weiß genau, was es wann gekostet hat. Das ist doch unglaublich, dass man das noch spürt. Sowas finde ich toll!“
Und so stellt man sich bei den Gemälden und Zeichnungen von Anja Warzecha unweigerlich die Frage, welche Leben – oder spirituell gesprochen: Seelen – an diesen Orten gewandelt sind, wer hier gestritten hat und wer geliebt, wer hier im Kinderwagen saß oder hinter der Gardine kauerte. Denn Anja ist überzeugt, dass diese Orte viel zu erzählen haben. Ob sie in Collagen aus Erinnerungen an Taiwan bestehen oder aus Zeichnungen über Meinersen. Vor allem aber dann, wenn die unsichtbaren Phantome dieser Orte wie lebendige Schatten zurückkehren, um stumm von der Vergangenheit zu berichten.
Ausstellung von Anja Warzecha:
„A Sense of Place“
Künstlerhaus Meinersen
Hauptstraße 2, Meinersen
Vernissage: 2. Juni, 19 Uhr
Ausstellung: 3. Juni bis 25. Juni
Do., Sa. & So. 15 bis 18 Uhr