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30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: KURT-Kolumnistin Marieke Eichner sieht in Gifhorn "Normalos" und Rechte zusammen pöbeln

Marieke Eichner Veröffentlicht am 23.09.2022
30 Jahre nach Rostock-Lichtenhagen: KURT-Kolumnistin Marieke Eichner sieht in Gifhorn

Vor 30 Jahren tötete ein rechtsextremer Mob aus „Normalos“ und Nazis im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen. Heute pöbeln die „Normalos“ wieder Seite an Seite mit Rechten und Nazis in Gifhorns Innenstadt.

Foto: Pixabay

Brennende Autos, fliegende Steine und eine grölende Menge, die applaudiert, als Brandsätze durch die Scheiben der Aufnahmestelle für Asylbewerber:innen im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen schmettern: Der Pogrom vor 30 Jahren ist Symbol geworden für die rechten Angriffe der sogenannten Baseballschlägerjahre. Ein hilfloses „Nie wieder“ schallte abermals durch Deutschland.

Im kollektiven Gedächtnis stach die 68er-Bewegung so präsent hervor, dass die Kontinuität rechter Weltbilder und die damit verbundenen Wahlerfolge extrem rechter Parteien gern verdrängt wurden. Das ikonische „Das Boot ist voll“ bestimmte den öffentlichen Diskurs der BRD. Und in der DDR wurde die rechte Jugendbewegung unter den sozialistischen Teppich gekehrt. Nach der Wiedervereinigung und dem Pogrom in Rostock stimmte die sozialdemokratische Partei einer Grundgesetzänderung nach Vorschlag des schwarz-gelben Kabinetts zu – das Asylrecht wurde stark eingeschränkt. Der Staat sperrte sich nicht gegen extrem rechte Standpunkte, ließ „Normalbürger“ und Neonazis die Feuerwehr und Polizei niederrennen und die Würde des Menschen für herkunftsbedingt erklären.

Was ist aus „Nie wieder“ geworden? Schließlich war Lichtenhagen beileibe kein Einzelfall, seit 1990 starben in Deutschland mindestens 187 Menschen durch rechte Gewalt. Nach Morden in den 90ern folgten Wahlerfolge der NPD nach 2000, 2015 demonstrierte wieder eine extrem rechte Bewegung, wieder prägte entmenschlichende Sprache den Diskurs, wieder etablierte sich eine rechte Partei, wieder brannten Geflüchtetenheime, wieder wurde das Asylrecht verschärft.

Heute befinden wir uns, wie damals nach der Wiedervereinigung, im gesellschaftlichen Umbruch: Pandemie, Inflation, Krieg, Klima – die Krise ist zum Dauerzustand geworden. Nun stehen die Landtagswahlen an, Stephan Weil ist zu Gast in Gifhorn. Und wieder pöbeln entfesselte „Normalos“ gemeinsam mit Rechten und Neonazis: Während der Veranstaltung pfeifen, grölen und schreien Menschen, einige von ihnen tragen AfD-Plakate, daneben wuchtige Männer mit Neonazi-Symbolen auf den Shirts. Doch als der Ministerpräsident sich nicht niederbrüllen lässt, klatscht die bunte Menge der Unterstützer:innen – durchaus nicht alle SPD-Fans, aber auch in Gifhorn gibt‘s Menschen, die dem skrupellosen Hass des Mobs wacker Solidarität und Besonnenheit entgegensetzen.

Der politische Diskurs hat zweifelsohne einen rauen Ton – und doch ist er diverser geworden. Endlich schließt er Minderheiten nicht mehr aus, endlich denken wir darüber nach, wie Sprache ihn prägt. Zwar beruht die Stärke unserer Demokratie auch darauf, dass der rechte Rand durch konservative Parteien in Argument und Sprache eingefangen wird. Gleichzeitig muss sich die Demokratie aber auch wehrhaft zeigen. Sonst bleibt „Nie wieder“ für immer eine Floskel.


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