Stolpersteine

Optimismus im Angesicht des Todes: Alice Nathansohn wurde in Auschwitz ermordet – Nun setzt ihre Heimatstadt Gifhorn ihr ein Denkmal

Marieke Eichner Veröffentlicht am 03.10.2021
Optimismus im Angesicht des Todes: Alice Nathansohn wurde in Auschwitz ermordet – Nun setzt ihre Heimatstadt Gifhorn ihr ein Denkmal

Alice Frieda Friedberg wurde 1880 in Gifhorn geboren. Sie heiratete Martin Nathansohn und lebte mit ihm bis zu ihrer Flucht in Hannover. Ihre letzte Reise, die Deportation ins Vernichtungslager Auschwitz, traten sie gemeinsam an.

Foto: Privat

Mehr als 75.000 Stolpersteine liegen in Deutschland. Die kleinen, quadratischen Messingtafeln im Boden erinnern an einige der Millionen Opfer der grausamen nationalsozialistischen Diktatur. Auch die Stadt Gifhorn will nun derjenigen gedenken, die diskriminiert, vertrieben, verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Ein hartnäckiges Team rekonstruierte die Lebensgeschichten von neun Menschen, die aus unserer Stadt kamen oder hier Leid erfahren haben. Am 6. Oktober werden vor ihren einstigen Wohnorten oder Wirkungsstätten in der Innenstadt und in Kästorf die ersten Stolpersteine Gifhorns verlegt. Diese neun Menschen stellen wir in unserer neuen „Stolpersteine“-Serie vor. Im ersten Teil erzählt der Niederländer Peter Frankenberg von seiner Urgroßmutter: Alice Nathansohn. Sie wurde in der Gifhorner Torstraße geboren und ist hier aufgewachsen. Ihr Urenkel berichtet von ihrem unverbesserlichen Optimismus – und davon, was es mit ihrer alten Spardose auf sich hat.

„Ich war überrascht, emotional – und gerührt“, erzählt Peter Frankenberg. „Dass nach so vielen Jahren diese Initiative aus Gifhorn kommt. Die Aufmerksamkeit für die Geschichte macht mich glücklich.“ Ausfindig gemacht hat den Niederländer Gifhorns ehrenamtliche Stadtarchivarin und Lokalhistorikerin Annette Redeker. Sie hat die Lebensgeschichte der Gifhornerin Alice Nathansohn erforscht und schließlich ihren Urenkel im niederländischen Telefonbuch gefunden. Als der erfährt, dass seiner Urgroßmutter ein Stolperstein vor ihrem Geburtshaus in der Torstraße 12 gewidmet werden soll, übermannen ihn die Gefühle.

Denn Peter Frankenberg konnte seine Uroma nie kennenlernen. Alice Frieda Friedberg wird am 1. Dezember 1880 in eine alteingesessene Gifhorner Familie geboren. Ihr Vater Julius Friedberg ist Kaufmann, engagiert sich in der Synagogengemeinschaft und im Stadtrat, wird der erste jüdische Senator der gesamten Provinz Hannover. Am 23. Mai 1905 heiratet Alice in ihrem neuen Wohnort Hannover Martin Nathansohn und bekommt mit ihm zwei Kinder: Fritz und Ilse. Ilse wird später Paul Frankenberg heiraten, auch sie bekommen zwei Kinder: Werner und Annelies – und Werner ist der Vater von Peter Frankenberg.

„Meine Urgroßmutter kenne ich nur aus Erzählungen“, berichtet Peter Frankenberg. „Aber die Emotionen sitzen tief, die Geschichte ist immer noch sehr präsent in meiner Familie.“

Denn Alices Geschichte, das glückliche Familienleben der Nathansohns in Hannover, wird von den Nationalsozialisten zerstört: Auf finanzielle Einschränkungen, Ausgrenzung und Diskriminierung nach der Machtübernahme 1933 folgt Ende 1938 die Liquidation der Hannoveraner Bank Nathansohn & Stern, die Alices Mann Martin gemeinsam mit Jakob Stern gehörte.

Ihr letztes Geld müssen die Eheleute Nathansohn für die Reichsfluchtsteuer und sonstige willkürliche Verbindlichkeiten an den Nazi-Staat zahlen, bevor sie zu ihren Kindern Fritz und Ilse in die Niederlande fliehen können. Aber sicher sind sie auch dort nicht: Im Mai 1940 marschiert die Wehrmacht ein.

„Als sie nach Holland geflohen sind, haben Alice und Martin in einem kleinen Zimmer in Utrecht gewohnt“, berichtet Peter Frankenberg. „Trotz der schrecklichen Situation, obwohl sie alles hinter sich lassen mussten, gab es eine positive Atmosphäre in dem Haus“, erzählt er ergriffen. „Dieser Positivismus, dieser Optimismus hat auch uns Kinder sehr beeinflusst, hat uns geprägt.“

Doch all der Optimismus rettet die Nathansohns nicht vor der Katastrophe: Im Sommer 1942 beginnen die Deportationen aus den Niederlanden, im September werden auch Alice und Martin in den Waggon geschickt, der sie ins Vernichtungslager Auschwitz bringt. Nach zwei Tagen Fahrt werden die zwei laut Annette Redeker wahrscheinlich aufgrund ihres Alters als „nicht arbeitstauglich“ eingestuft und sofort getötet. Als Datum ihres Todes wird später der 21. September notiert.

In den Niederlanden sei das Thema Nationalsozialismus und Judenverfolgung „sehr anwesend“, schon seit seiner Kindheit, berichtet Peter Frankenberg – in der Schule, in der Literatur, im Kino. Doch sein Vater habe fast nie davon erzählt. „Diese junge Kriegsgeneration hat viel geschwiegen. Bei uns hatte das einen starken Effekt: Wir fühlen uns stärker mit dem Thema verbunden, als wenn mein Vater davon erzählt hätte. Durch sein Schweigen ist es noch emotionaler für uns Kinder.“

Oft habe man sich deswegen gestritten, „später wurde mein Vater offener, da waren wir – meine zwei Schwestern, mein Bruder und ich – schon erwachsen.“ Da erfuhren die Geschwister, dass sich Alice und Martin versteckten, von ihren Kindern getrennt wurden, dass auch ihr Sohn Fritz ermordet wurde – dass nur ihre Großmutter Ilse den Holocaust überlebte. „Gegen Ende seines Lebens hat mein Vater offener über den Krieg und die jüdische Identität gesprochen. Und wenn er dann von Alice berichtete, war es immer warm und positiv. Ein langer Prozess – für uns alle.“

„Es rührt mich, dass Ihr in Gifhorn der Vergangenheit ein Gesicht geben wollt. Diese Verbundenheit ist für mich das Wichtigste.“

Peter Frankenberg, Urenkel von Alice Nathansohn aus Gifhorn, die von den Nationalsozialisten deportiert und ermordet wurde

Foto: Privat

Doch der sei nicht beendet – auch nicht durch die Verlegung eines Stolpersteins für seine Gifhorner Uroma. „Obwohl sich mein Leben um viele andere Dinge dreht, spürte ich bei dem Anruf von Annette Redeker, wie tief das ein Teil von mir ist, wie tief die Emotionen unter der Oberfläche doch sind“, erklärt Peter Frankenberg. „Meiner ganzen Familie geht das so.“ Nach dem Anruf der Gifhorner Lokalhistorikerin kontaktiert Peter Frankenberg sofort seinen Bruder. „Er hat gleich angefangen nach Fotos zu suchen.“ Zur Verlegung des Stolpersteins wollen zehn Familienmitglieder der Einladung nach Gifhorn folgen; insgesamt drei Generationen: „Meine Tante Annelies mit ihren zwei Töchtern Carolien und Helen, mein Bruder Hans mit seiner Frau und seiner Tochter Leanne, meine Schwester Anneke mit ihrem Mann und ihrer Tochter Katinka – und ich selbst.“

„Das ist ein unglaublich wichtiges Ereignis“, erklärt Peter Frankenberg. „Dass die Initiative aus Deutschland, aus Gifhorn, gekommen ist, ist viel wichtiger, als wenn wir dafür gekämpft hätten“, sagt der Niederländer. „Es rührt mich, dass Ihr in Gifhorn der Vergangenheit ein Gesicht geben wollt. Diese Verbundenheit ist für mich das Wichtigste.“

Eines macht Peter Frankenberg sehr deutlich: Die einfache Einteilung in Opfer und Täter, in Deutsche und Niederländer, lehnt er ab. „Lange Zeit war das so in Holland, aber meine Familie wollte da nicht mitmachen und ich bin froh darüber.“ Es sei schwierig, eine solche Geschichte auf den Schultern zu tragen, und er bewundere, wie damit umgegangen wurde und wird. Peter Frankenberg hat seinen Kindern die Familiengeschichte erzählt, „bewusst, weil sie mich beeindruckt hat“ – auch wegen des Optimismus seiner Urgroßmutter. „Ich hoffe, dass die Geschichte in der Familie bleibt, dass sie der nächsten Generation erhalten bleibt.“

Das scheint sicher, gibt es da doch diese Spardose seiner Urgroßmutter: verschnörkeltes Silber, vorn und auf der Seite sind die Geburtsorte und -daten ihrer Besitzer eingraviert.

In die Spardose von Alice Nathansohn sind ihr Geburtsort und Geburtstag sowie die ihrer Nachfahren eingraviert.

Foto: Privat

„Ich glaube, die Spardose war ein Geschenk von Alice an meinen Vater. Wie Alice sie bekommen hat, wissen wir nicht. Wahrscheinlich hat auch sie sie geschenkt bekommen“, mutmaßt Peter Frankenberg. „So etwas kauft man ja nicht für sich selbst.“

Seit sein Vater Werner die Spardose erhielt, wird das schmucke Stück an die Söhne der Familie Frankenberg weitergereicht – und um Gravuren erweitert. „Es ist ein wichtiges Familienerbstück, immerhin hat es den Krieg überlebt, die Flucht und das Verstecken. Zumal meine Urgroßmutter ja kaum etwas mitnehmen konnte aus Deutschland, alles zurücklassen musste. Wir wissen bis heute nicht, wie sie das geschafft hat.“

So versucht Peter Frankenberg nicht nur die Erinnerung an seine Urgroßmutter zu erhalten, sondern auch ihre Spardose mit den mittlerweile fünf Gravuren – angefangen am 1. Dezember 1880 in Gifhorn. „Wir wollen diese Tradition beibehalten“, erzählt er. „Nach mir hat sie mein Sohn Sebastian bekommen. Als im April sein Sohn William – mein Enkel – geboren wurde, wurde auch sein Geburtstag und Geburtsort eingraviert. Zufälligerweise erreichte mich der Anruf von Annette Redeker gerade zu der Zeit.“

Verlegung von Stolpersteinen für neun Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn durch den Künstler Gunter Demnig mit Vorstellung der Biografien, Blumenniederlegung und musikalischer Begleitung durch die Kreismusikschule Gifhorn:

Mittwoch, 6. Oktober
15 Uhr
Start am Schillerplatz, Gifhorn
Interessierte sind willkommen


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