KURT vor Ort
Corona-Kollektivquarantäne in Ehra-Lessien - So erlebten die 160 Bewohner der Flüchtlingsunterkunft ihre vierwöchige Isolation
Marieke Eichner Veröffentlicht am 18.07.2020
Die Corona-Kollektivquarantäne in der Flüchtlingsunterkunft in Ehra-Lessien ist aufgehoben. Wir wollten mit den Bewohnerinnen und Bewohnern vor Ort sprechen – kamen aber nicht weiter als bis zum Metalltor.
Foto: Çağla Canıdar
19 Männer und Frauen waren mit dem Corona-Virus infiziert – unter Quarantäne gestellt wurden aber alle rund 160 Bewohner der Flüchtlingsunterkunft in Ehra-Lessien. Keiner kam rein, keiner kam raus. Einen ganzen Monat lang. Die Quarantäne ist nun Vergangenheit: Die Gifhorner Kreisverwaltung berichtete in einer Pressemitteilung, dass es auf dem Gelände keine Infizierten mehr gibt. Die Gefahr ist also vorüber, dachten wir uns – und wollten vor Ort nachfragen, wie die Bewohnerinnen und Bewohner diese Zeit erlebt haben. Doch man ließ uns nicht auf das Gelände. Einige Bewohner trafen wir aber außerhalb des Zauns.
Direkt am Tor werden wir von einem Sicherheitsmann aufgehalten. Die Presse dürfe nicht auf das Gelände, wir bräuchten einen offiziellen Termin mit der Gifhorner Kreisverwaltung, erklärt uns der Mann in höflichem Ton. Weisung von oben. Doch wir wollten ja eben nicht mit den Mitarbeitern oder der Führungsebene der Kreisverwaltung sprechen, sondern mit den Bewohnerinnen und Bewohnern selbst: Wie haben sie die einmonatige Quarantäne erlebt – abgeschnitten von der Außenwelt? Wie wurden sie medizinisch betreut? Wie ist die Stimmung vor Ort? Antworten werden wir heute in der Flüchtlingsunterkunft nicht finden – aber ja vielleicht davor...
Als drei Männer das Gelände durch das Tor verlassen wollen, tritt der Sicherheitsmann aus seinem Pförtnerhaus. Das Verlassen der Sammelunterkunft muss er offenbar protokollieren. Einer der Männer wird lauter, der Pförtner erhebt ebenfalls die Stimme. Von unserem Beobachtungsposten aus ist nicht zu verstehen, worum es geht. Der Mann verlässt das Gelände auf einem Fahrrad, seine zwei Begleiter treten auf den Sicherheitsmann zu und zeigen Papiere vor. Der Sicherheitsmann macht sich Notizen. Die Stimmung ist angespannt. Der Sicherheitsmann spricht uns erneut an – immer noch höflich, aber bestimmt: „Bitte. Verschwinden Sie.“ Wir gehen – und setzen unsere Suche nach Antworten auf der 750 Meter langen Zufahrtsstraße zwischen Dorfrand und Flüchtlingsunterkunft fort.
Lessien, Teil der Gemeinde Ehra-Lessien, ist ein schmuckes, aber verschlafenes Dörfchen mit knapp 600 Einwohnern. Die Flüchtlingsunterkunft, die bis Ende 2013 noch ein Truppenübungsplatz der Bundeswehr war, liegt am Ende einer langen Straße, inmitten eines dichten Eichenwaldes. Die Straße zur Unterkunft heißt Platzstraße – sie verläuft schnurgerade, anfangs noch gesäumt von Einfamilienhäusern mit gepflegten Gärten und großen Garagen. Hinterm Dorfrand folgen Felder und nur noch vereinzelte, von hohen Bäumen umgebene Grundstücke. Gebäudedächer sind durch die Baumkronen zu erkennen. Dann macht die Straße eine Kurve nach rechts und zu beiden Seiten ist nur noch dichtes, sattes Grün zu sehen. Vor dieser Kurve, außerhalb der Sichtweite des Pförtnerhauses, warten wir nun – und treffen die drei Männer wieder, die gerade die Flüchtlingsunterkunft verlassen haben.
KURT-Mitarbeiterin Marieke Eichner recherchiert vor Ort. Der letzte Bus fährt unter der Woche um 18 Uhr, sonntags kommt er drei Mal nach Lessien.
Foto: Çağla Canıdar
Alle drei sind etwas schüchtern, doch einer von ihnen geht interessiert auf uns zu und beantwortet unsere Fragen. Sekoua Dukuly erzählt uns auf Englisch, dass sie mit den Fahrrädern zur Bushaltestelle fahren, sie wollen in die Stadt – und sie sind in Eile, denn der Bus kommt gleich. Sekoua berichtet, dass er seit fünf Monaten in Ehra-Lessien lebt und dass es sehr schwer sei: „It’s very difficult to live here.“ Ein kurzer Dialog zwischen Sekoua und einem seiner Mitbewohner folgt – wir verstehen kein Wort. Mohamed Bea heißt der zweite Mann. In einer Mischung aus Englisch, Französisch und ein bisschen Deutsch erklärt er uns: „Wir wohnen zu sechst zusammen. In einem Raum.“ Er sei seit dem vergangenen Oktober hier in Ehra-Lessien und komme aus Guinea in Westafrika. Wie haben er und seine Mitbewohner die Corona-Kollektivquarantäne erlebt? Bevor wir weiter nachfragen können, entschuldigt er sich; sie müssten jetzt wirklich los zum Bus.
Wir machen uns auf denselben Weg. Als wir an der Bushaltestelle ankommen, sehen wir noch einmal kurz Sekoua, Mohamed und den dritten Mann, für dessen Vorstellung die knappe Zeit leider nicht reichte. Sie schließen ihre Fahrräder an und hüpfen in den Bus. Linie 164, Richtung Gifhorn. Wir treffen auf einen grauhaarigen Mann in Latzhose, der gerade hinter dem Haltestellenhäuschen seine Beete harkt. Seinen Namen möchte er zwar nicht in unserer Reportage lesen, gibt uns aber bereitwillig Auskunft: „Viele fahren von hier aus mit dem Bus zum Einkaufen nach Grußendorf. Viele auch mit dem Fahrrad“, erzählt er uns.
Wie klappt das Zusammenleben im kleinen Lessien? Probleme mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der Flüchtlingsunterkunft habe er nie gehabt, das macht der Mann gleich zu Beginn klar. „Ich hab sie mir so langsam erzogen, was das Grüßen angeht.“ Er schmunzelt – und wir erkennen, dass es ihm wichtig ist. Auf’m Dorf wird halt gegrüßt. „Die Kinder sind sowieso meistens nett. Ich hab ihnen immer gerne Schokolade gegeben – also bis das mit Corona anfing“, erzählt er. „Da musste ich dann immer Nein sagen, aber die Kinder haben immer wieder Opa Schokolade zu mir gesagt.“ Kurze Pause, der alte Mann wirkt plötzlich bedrückt: „Naja...“, resigniert er schließlich mit einem Schulterzucken – und harkt weiter seine Beete.
Unsere KURT-Fotografin verabschiedet sich, der nächste Termin wartet schon – da sehe ich auf der Straße einen Mann, der mit seinem Rad in Richtung Flüchtlingsunterkunft unterwegs ist. Ich winke ihm zu, und er hat tatsächlich Zeit und Lust, mit mir zu sprechen. Wir verständigen uns auf Englisch. William Idehen heißt der Mann, er ist 45 Jahre alt und ursprünglich kommt er aus Nigeria, Westafrika. Gerade allerdings vom Einkaufen aus Grußendorf, wie er mir erzählt. Auf dem Gepäckträger seines Fahrrades hat er seine Tasche festgeklemmt, am Lenker baumelt ein großer Joghurtbecher mit Plastikhenkel.
Der gelernte Dachdecker berichtet mit ruhiger Stimme von der Quarantäne: Ausnahmslos alle Bewohnerinnen und Bewohner durften das Gelände für einen Monat lang nicht verlassen, erklärt er mir. Für die Infizierten habe es keine Behandlung gegeben („no treatment“) – sie seien nur getestet und isoliert worden.
Wie lebt es sich in der Flüchtlingsunterkunft – abgesehen von Corona? „It’s good“, sagt William und fügt hinzu: „Viele – how do you say – Büsche. Viel Grün.“ Er wechselt wieder ins Englische. Es sei nur leider kein schöner Ort, um Nachwuchs großzuziehen, sagt er. William hat zwei Kinder, sechs und zweieinhalb Jahre alt. Mit ihnen und seiner Frau lebt er zusammen in einem Zimmer. Ihr kleines Zuhause liege in einem Gebäude mit elf weiteren Räumen, hinzu komme ein Bad – das sich alle Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses teilen.
„Absolutes Betretungsverbot“: Das Schild ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als das Gelände in Ehra-Lessien noch der Bundeswehr als Truppenübungsplatz diente. Über dem Maschendrahtzaun verlaufen drei Reihen Stacheldraht.
Foto: Çağla Canıdar
In der Flüchtlingsunterkunft bekommen Familien ein gemeinsames Zimmer zugewiesen, allein Geflüchtete werden nach ihrer Nationalität zu Wohngemeinschaften zusammengewürfelt – die Verantwortlichen wollen so mögliches Konfliktpotential minimieren. Zurück zu William: „Als ich hierher kam, sagten sie mir, ich werde zwei Monate hier bleiben.“ Dann überlegt er kurz: „Das war vor einem Jahr und zwei Monaten.“
Der Familienvater erzählt, dass er gerne kocht – das meiste Geld, das er erhält, wendet er fürs Essen seiner Kinder auf. Mit ihnen verbringt er viel Zeit, erzählt William. Wir sprechen weiter über das Leben in der Unterkunft, über das Leben seiner Kinder. Er wird nachdenklich – und leiser: „Ich lebe nicht gerne hier. Es wird hier bald Probleme geben.“ Er wirkt besorgt – und sagt dann: „Ich bleibe hier, tue gar nichts. Was für ein Leben ist das? Ich weiß nicht, wo ich hingehen soll. Ich wache auf, ich gehe zu Bett...“
William erzählt von seiner Arbeit, dass er gerne wieder als Dachdecker arbeiten möchte. Er taut langsam auf, wird neugierig und beginnt, nun mich mit Fragen zu löchern: Welchen Beruf hast Du? Wo kommst Du her? Hast Du auch eine eigene Familie? Vielleicht auch schon einen Ehemann? Wir kommen – wie man so schön sagt – ins Quatschen, bis William schließlich auf seinen immer noch am Lenker baumelnden Joghurtbecher deutet: Den sollte er jetzt wohl besser mal nach Hause bringen, sagt er, wünscht mir noch lächelnd alles Gute und Gottes Segen. Dann schwingt er sich aufs Rad.
Das Engagement von Ehrenamtlichen, die laut Pressemitteilung der Gifhorner Kreisverwaltung vor allem in der Zeit der Corona-Kollektivquarantäne für die Bewohnerinnen und Bewohner der Flüchtlingsunterkunft im Einsatz waren, wurde in unseren Gesprächen vor Ort nicht thematisiert: Das Rote Kreuz kümmerte sich demnach sofort um die Versorgung mit Lebensmitteln – außerdem seien Ehrenamtliche des Technischen Hilfswerks vor Ort gewesen, „um notwendige Versorgungsmaßnahmen in die Wege zu leiten“, heißt es in der Mitteilung der Kreisverwaltung. Beispielsweise sei daran gearbeitet worden, weitere Gebäude auf dem Gelände so weit herzurichten, „um die Personen räumlich zu trennen und mehr Platz für jeden Einzelnen zu schaffen“.