Glauben & Zweifeln

Wenn Worte meine Sprache wären - Wie Worte unser Denken, unsere Gefühle und unsere Weltansicht beeinflussen

Martin Wrasmann Veröffentlicht am 18.10.2020
Wenn Worte meine  Sprache wären - Wie Worte unser Denken, unsere Gefühle und unsere Weltansicht beeinflussen

Martin Wrasmann ist ein Mann der Bücher – und doch fehlen auch ihm manchmal die Worte. Er wünscht sich eine Sprachüberprüfung nach Wahrheit, Notwendigkeit und nach Gutem in unseren Worten.

Foto: Foto: Çağla Canıdar

„Wenn Worte meine Sprache wären, ich hätte Dir schon gesagt – in all den schönen Worten – wie viel mir an Dir lag. Ich kann Dich nur ansehen, weil ich Dich wie eine Königin verehre – doch ich kann nicht auf Dich zugehen, weil meine Angst den Weg versperrt. Mir fehlen die Worte, ich habe die Worte nicht, Dir zu sagen was ich fühle. Ich bin ohne Worte, ich finde die Worte nicht – ich habe keine Worte für Dich…“ Was Tim Bendzko, nachdem er die Welt gerettet hat, fehlt, sind die Worte, die es braucht, um Situationen, Lebenslagen zu beschreiben, Gefühle auszudrücken oder eigene Positionen argumentativ zu hinterlegen. Anders ging es Hannah Kiesbye, die sich 2017 als damals 14-Jährige diskriminiert fühlte, als sie ihren Schwerbehindertenausweis erhielt.

Hannah Kiesbye hatte eine grandiose Idee und deutete die vorhandene Bezeichnung in die aus ihrer Sicht positivere Variante „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“ um und präsentierte eine Fotografie einer entsprechend beschrifteten Ausweishülle, die sie gemeinsam mit einer Lehrerin erstellt hatte.

Nachdem zunächst ein Twitter-Nutzer die Idee der Jugendlichen und ihren Text in einem Tweet aufgriff, fand die Umbenennungsidee in sozialen Netzwerken viel positive Resonanz und erhielt in der Folge große Aufmerksamkeit. Bundesweit berichteten darüber zahlreiche Print- und Online-Medien, Rundfunk- und Fernsehsender. Am 1. Oktober 2020 nun hat ihr Bundespräsident Steinmeier das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Hannah hat mit einem Wort einen kompletten Denkwechsel und damit auch sicher einen Mentalitätswechsel ausgelöst – ich dachte mir, warum das nicht schon früher jemand entdeckt hat. Ich nehme diese Sprachveränderung zum Anlass, die Worte, die ich spreche – auch die, die mir fehlen – daraufhin zu prüfen, ob sie das, was ich meine, positiv ausdrücken. Ein Beispiel aus der Bibel: die zehn Gebote. Mit dieser Überschrift haben sie sich in unserer Sprache festgesetzt. Wörtlich übersetzt heißen die zehn Gebote „zehn Worte“, im hebräischen Sprachduktus meint die Übersetzung „Du sollst“, mit dem jedes Gebot beginnt, eher ein „Du wirst“. Das setzt diese zehn Sätze, die zu Grundbegriffen fast jeder Ethik gehören, in einen ganz anderen Zusammenhang: „Du wirst nicht stehlen, weil das, was Du besitzt, für Dein Leben reicht. Du wirst nicht die Unwahrheit sagen, weil Du zur Wahrhaftigkeit berufen bist.“ Es geht also nicht primär um Gebote, sondern um einen großen Zuspruch, der sehr viel aussagt über die Würde und die Fähigkeiten des Menschen.

In diesem Sinne wünsche ich mir eine Sprachüberprüfung: Oft verwenden wir unbewusst Formulierungen, die nicht gerade zu einem positiven Gemütszustand beitragen. Fühlt sich jemand etwa überfordert und drückt diesen Zustand mental und verbal immer und immer wieder aus, dann wird das die empfundene Überforderung verstärken. Stellen Sie sich einmal vor, in Ihrem Bewusstsein befände sich ein großer Garten. Mit jedem neuen Gedanken säen Sie darin einen Samen. Wiederholen Sie nun diesen Gedanken, säen Sie nicht nur neue Samen, sondern pflegen auch die bereits bestehenden Samen und Pflanzen derselben Gedankensorte. Es liegt also in unserer Hand, ob ein Meer aus wucherndem Unkraut oder farbenprächtigen Blumen und großen Obstbäumen, die irgendwann Früchte tragen werden, in unserem mentalen Garten wächst.

Ein anderes Beispiel: In Gifhorn wird gerade eine sehr ernsthafte und noch ergebnisoffene Diskussion über durch die NS-Zeit belastete Personen, die einer Straße einen Namen geben, geführt. Sollte man nicht nach genauer Prüfung sich dafür entscheiden, auch öffentliche Bezeichnungen dahingehend zu prüfen, ob sie etwas positives und kraftvolles ausdrücken – und das ist keine Rede gegen eine Gedenkkultur, die alles, was hinter uns liegt, auch benennen muss.

Manchmal sind es auch die kleinen Sätze, die positiv formuliert etwas verändern können: „Das ärgert mich“ in: Was kann ich aus dieser Erfahrung lernen? „Ich bin eifersüchtig“ in: Ich merke, dass dieser Mensch mir sehr wichtig ist! „Ich bin erschöpft“ in: Ich merke, dass ich etwas mehr Ruhe brauche! „Ich bin frustriert“ in: Ich suche nach einer Veränderung! „Ich bin gelangweilt“ in: Ich bin bereit für Neues!

Wenn Worte meine Sprache wären, ja dann habe ich einen uralten Tipp für Sie – probieren Sie es einmal aus. „Die drei Siebe“ stammt vom alten griechischen Philosophen Sokrates. Einst wandelte Sokrates durch die Straßen von Athen. Plötzlich kam ein Mann aufgeregt auf ihn zu. „Sokrates! Ich muss Dir etwas über Deinen Freund erzählen, der…“ – „Warte einmal“, unterbrach ihn Sokrates. „Bevor Du weitererzählst – Hast Du die Geschichte, die Du mir erzählen möchtest, durch die drei Siebe gesiebt?“, fragte er. „Die drei Siebe? Welche drei Siebe?“, fragte der Mann überrascht zurück. „Lass es uns ausprobieren“, schlug Sokrates vor. „Das erste Sieb ist das Sieb der Wahrheit. Bist Du Dir sicher, dass das, was Du mir erzählen möchtest, wahr ist?“, fragte Sokrates. „Nein, ich habe gehört, wie es jemand erzählt hat“, erwiderte der Mann. „Aha. Aber dann ist es doch sicher durch das zweite Sieb gegangen, das Sieb des Guten? Ist es etwas Gutes, das Du über meinen Freund erzählen möchtest?“ Zögernd antwortete der Mann: „Nein, das nicht. Im Gegenteil...“ Sokrates sprach: „Jetzt bleibt uns nur noch das dritte Sieb. Ist es notwendig, dass Du mir erzählst, was Dich so aufregt?“ „Nein“, antwortete der Mann. „Nicht wirklich notwendig.“ Sokrates lächelte: „Nun. Wenn die Geschichte, die Du mir erzählen willst, nicht wahr ist, nicht gut ist und nicht notwendig ist, dann vergiss sie besser – und belaste mich nicht damit!“

Wenn wir das umsetzen können, braucht es vielleicht einen Schwer-in-Ordnung-Ausweis für alle.

Martin Wrasmann, Pastoralreferent emeritus der St. Altfrid-Gemeinde in Gifhorn, schreibt die monatliche KURT-Kolumne „Glauben & Zweifeln“.
Beipflichtungen wie auch Widerworte sind stets willkommen. Leserbriefe bitte an redaktion@kurt-gifhorn.de.


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