Stolpersteine

Wenn die Einberufung für Begeisterung sorgt: Für Gretus Schütte war der Krieg ein Ausweg aus dem Kästorfer Erziehungsheim

Steffen Meyer Veröffentlicht am 06.10.2024
Wenn die Einberufung für Begeisterung sorgt: Für Gretus Schütte war der Krieg ein Ausweg aus dem Kästorfer Erziehungsheim

In einem Brief aus dem März 1936 berichtet Gretus Schütte seinen Eltern von einem Fußball-Spiel mit der Heimmannschaft. Wenig später wird er zwangssterilisiert.

Foto: Sammlung Archiv der Dachstiftung Diakonie

Die Zahl der Opfer des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn ist dreistellig. Stolpersteine in unserer Stadt erinnern an sie. Die Biographien stellt KURT in einer Serie vor. In einem Gastbeitrag schildert Dr. Steffen Meyer, Historiker und Archivar der Dachstiftung Diakonie, diesmal die Geschichte von Gretus Schütte. Mit dem Traum, zur See zu fahren, kam der 15-Jährige nach einigen Diebstählen in seiner Heimat Emden ins Kästorfer Erziehungsheim Rischborn, wo ihm viel Leid widerfährt.

Gretus Schütte wurde am 4. Dezember 1920 als Sohn eines Hafenarbeiters in Emden geboren. Er hatte sieben Brüder und besuchte bis Ostern 1935 eine Hilfsschule. Nach der Schule arbeitete er gelegentlich als Schiffsjunge, beging einige Diebstähle und trieb sich auf der Straße herum. Dies waren Gründe, warum Gretus Schütte am 11. Februar 1936 auf Weisung des Städtischen Jugendamtes Emden wegen unzulänglicher Erziehung und fortschreitender Verwahrlosung in das Erziehungsheim Rischborn kam. Zu dieser Zeit lebten die Eltern noch mit fünf ihrer acht Kinder zusammen in einer Wohnung in Emden.

Die Bewohnerakte von Gretus Schütte enthält Schriftstücke, die nicht nur von der Anstaltsleitung, sondern auch von ihm selbst und seinen Eltern stammen. Während des gesamten Heimaufenthaltes in Kästorf, der länger als vier Jahre dauerte, tauschten sich alle Beteiligten über das Wohlergehen und die Perspektiven des Jungen aus. Die Eltern hofften, dass die Fremderziehung ihrem Sohn guttun und er bald wieder nach Hause kommen würde. Eine Stelle als Schiffsjunge stand schon im Sommer 1936 in Aussicht. So dachte auch Gretus, der unbedingt Seemann werden wollte. Aber Anstaltsvorsteher Martin Müller und die Erziehungsbehörden wollten ihn nicht zu früh entlassen und Gretus wie alle anderen Kästorfer Heimkinder zum landwirtschaftlichen Gehilfen ausbilden. Enttäuschte Erwartungshaltungen und Spannungen blieben da nicht aus.

Im März 1936 antwortete Gretus auf einen Brief seiner Eltern. Er erkundigte sich nach seinen Geschwistern, bat um sein Seefahrtenbuch und berichtete von einem Fußballspiel mit der Heimmannschaft, das am Nachmittag stattfinden sollte.

Wenige Tage später wird Gretus Schütte im Erziehungsheim zusammen mit mehr als 20 anderen Heimbewohnern von Landesmedizinalrat Dr. Walter Gerson psychiatrisch untersucht. Gerson bezeichnete den damals 15-jährigen Jungen als gutmütig, hilflos und schwach. Er diagnostizierte Schwachsinn und empfahl Schütte für eine Sterilisation. Anstaltsvorsteher Müller zeigte Schütte beim Gifhorner Gesundheitsamt an, reichte aber kein Gutachten ein. Das holte er im November 1936 nach der zweiten psychiatrischen Untersuchung von Gretus Schütte nach. Dr. Johannes Berger, der als Nachfolger von Walter Gerson die Untersuchung vornahm, bestätigte die Diagnose seines Vorgängers und erstellte ein Sterilisationsgutachten.

Während das Erbgesundheitsgericht Hildesheim kurz vor Weihnachten die Bewohnerakte von Gretus Schütte zur Beweisaufnahme anforderte, durfte Gretus mit Erlaubnis des Jugendamtes Emden über die Weihnachtstage seine Familie in Emden besuchen.

Den Beschluss zur Unfruchtbarmachung traf das Gericht am 4. Februar 1937 in Anwesenheit von Gretus Schütte. Zusammen mit zwei anderen Jugendlichen aus dem Erziehungsheim erhielt er für diesen Tag eine Vorladung. Zur Last wurde Gretus Schütte gelegt, dass er Bettnässer gewesen sei, eine Hilfsschule besucht hatte und ein Bruder im Zuchthaus saß. Außerdem, so das Gericht, wurde im Heim starker Schwachsinn festgestellt, bestätigt durch eine Intelligenzprüfung: „Im Rechnen versagt er vollständig, auch die meisten übrigen Fragen kann er nicht richtig beantworten. Auch im Termin zeigen sich starke Ausfälle auf allen Gebieten. Er ist einige Monate als Schiffsjunge gefahren, z.B. von Emden nach Stettin. Er weiss aber nicht, wie das Schiff gefahren ist, kann auch nichts über Heck und Bug, Backbord und Steuerbord sagen. Angeborener Schwachsinn liegt unzweifelhaft vor. Unfruchtbarmachung ist notwendig, mit besonderer Berücksichtigung seiner erblichen Belastung und seines eigenen asozialen Verhaltens.“

Am 19. März 1937 brachte die Hausmutter des Erziehungsheimes Gretus Schütte zusammen mit einem anderen Heimbewohner, Wilhelm Noltemeyer, in das Krankenhaus Marienstift in Braunschweig, wo man beide Jungen einen Tag später zwangssterilisierte. Zurück im Heim kam Gretus Schütte nach einigen Tagen Schonung als landwirtschaftlicher Arbeiter zu einem Bauern in Dienst. Das Arbeitsverhältnis – vereinbart waren 20 Reichsmark Lohn pro Monat zuzüglich Kost und Logis – sollte am 4. Dezember 1941 mit der Volljährigkeit von Gretus Schütte enden. Dazu kam es aber nicht. Schütte war unglücklich, hatte kein Interesse an der harten Feldarbeit und floh Richtung Emden. Nach einigen Tagen in Celle aufgegriffen, kam er am 27. April zurück ins Erziehungsheim und von dort aus wieder in seine Dienststelle. Hier blieb Gretus Schütte fast ein weiteres Jahr. Während er nach wie vor Seemann werden wollte und die Eltern sich auf eine baldige Rückkehr ihres Sohnes freuten, hielt Anstaltsvorsteher Müller Ausschau nach einer anderen, geeigneteren Stelle für seinen Schützling. Die fand er vermeintlich im März 1938. Gretus Schütte kam zu einer Bauersfamilie in Dienst, die einen Hof in der Ortschaft Vollbüttel besaß. Ein befriedigendes Dienstverhältnis entwickelte sich allerdings für niemanden. Die Bauersfamilie beklagte die Unordnung ihres neuen Gehilfen, seinen fehlenden Arbeitswillen und seinen hohen Tabakkonsum. Außerdem könne er nicht mit Geld umgehen, statt seinen Lohn für einen Sonntagsanzug aufzusparen, bevorzuge er Kinobesuche in Gifhorn. Die Eltern wiederum stellten im Dezember 1938 – Gretus war gerade bei ihnen zu Besuch – einen Antrag auf Entlassung aus der Fürsorgeerziehung und boten an, in Emden eine Stelle für ihn zu besorgen.

Wie zu erwarten, lehnte die Erziehungsbehörde den Antrag im Februar 1939 ab. Den Eltern, denen man nichts Ungünstiges nachsagte, teilte man mit, dass Gretus noch recht haltlos und in seiner Dienststelle am besten aufgehoben sei, da er straffe Beaufsichtigung benötige. „Eine Rückkehr ihres Sohnes in die ungünstigeren Verhältnisse einer Hafenstadt muß zunächst noch aufgeschoben werden, bis er noch gefestigter ist.“

Veränderungen kündigten sich an, als Gretus Schütte im August 1939 hocherfreut von seiner bevorstehenden Musterung erfuhr. Als die Musterung beziehungsweise ein Stellungsbefehl auf sich warten ließen, kam es erneut zu Spannungen zwischen der Bauersfamilie und Gretus, der unbedingt Soldat werden wollte. Im November 1939 eskalierte die Situation, Gretus Schütte verließ nach einem Streit den Hof Richtung Kästorf. Im Erziehungsheim angekommen, wurde er von Hausvater Hellwig mit „Maulschellen“ bestraft und gelobte anschließend besseres Betragen. Danach war ausgeschlossen, dass Schütte mit Vollendung des 19. Lebensjahres vorzeitig aus der Fürsorgeerziehung entlassen werden würde, was per Gesetz möglich gewesen wäre.

Das letzte in der Akte überlieferte Schreiben von Hausvater Hellwig an Gretus Schütte.

Foto: Archiv der Dachstiftung Diakonie, Bewohnerakte von Gretus Schütte

Hausvater Hellwig befürwortete in einem Schreiben an die Erziehungsbehörde eine Verlängerung der Erziehungsmaßnahme bis zur Wehrmachtseinberufung. So verbrachte Gretus Schütte weitere Monate auf dem Bauernhof in Vollbüttel. Im Sommer 1940 erfolgte dann seine Musterung und am 1. Oktober erhielt er den lang ersehnten Gestellungsbefehl. Noch am selben Tag meldete sich Gretus Schütte zu einem Sammeltransport in Celle, der ihn zu seiner Einheit nach Barth an die Ostsee führte. Mit Hausvater Hellwig blieb Gretus Schütte noch ein Jahr in Kontakt. Er berichtete von seiner Soldatenzeit in einer Flak-Abteilung, die ihm gut gefiel, Hellwig wiederum berichtete von den Veränderungen im Erziehungsheim, wo Anfang 1941 überwiegend „kleine Burschen“ lebten, da die älteren Jungen zur Wehrmacht oder zum Reichsarbeitsdienst eingezogen worden waren. Das letzte Dokument in der Bewohnerakte ist ein Schreiben von Hellwig an Schütte, der im September 1941 in Frankreich stationiert war.

Weitere Lebensstationen von Gretus Schütte lassen sich anhand von Dokumenten skizzieren, die im Berliner Bundesarchiv und im Niedersächsischen Landesarchiv, Abteilung Aurich überliefert sind. Im Rang eines Gefreiten wurde Gretus Schütte am 2. Oktober 1942 in das wenige Kilometer von Paris entfernt liegende Wehrmachtsgefängnis Fresnes eingeliefert. Laut eines Eintrages in einer Sippentafel hatte sich Schütte zuvor unerlaubt von der Truppe entfernt und kam vor ein Kriegsgericht. Wie lange er im Gefängnis blieb, ist unklar. Im Jahr 1943 wollte Schütte heiraten und beantragte ein Ehetauglichkeitszeugnis, allerdings erfolglos.

Eine weitere Spur führt in die Nachkriegszeit. Im Dezember 1952 beantragte Gretus Schütte eine Rente als Verfolgter des NS-Regimes. Er lebte zu dieser Zeit in Moordorf bei Aurich und war verheiratet. Als Grund der Verfolgung nannte er eine mehrmonatige Gestapohaft in Emden und seine Sterilisation: „Ohne, dass ich oder meine Eltern unterrichtet oder gefragt worden waren, wurde ich 1934 einer Operation unterzogen, die meine Zeugungsunfähigkeit zur Folge hatte. Ich leide noch heute unter den Folgen“, notierte er in seinem Antrag.

Wie für einige andere Opfer wurde auch für Gretus Schütte auf dem Kästorfer Gelände der Diakonie ein Stolperstein gesetzt.

Foto: Mel Rangel

Außerdem verwies Schütte auf seine Soldatenzeit. Er sei wehrtauglich und damit gesund gewesen, so Schütte in seiner Argumentation, die Sterilisation müsse demnach eine politische Verfolgung gewesen sein. Der mit dem Antrag befasste Sonderhilfeausschuss folgte seiner Argumentation nicht und lehnte den Antrag im Juni 1953 ab. In der Begründung hieß es unter anderem: „Die angestellten Ermittlungen haben ergeben, dass der Antragsteller auf Grund eines Beschlusses des Erbgesundheitsgerichts Hildesheim vom 4.2.1937 am 20.3.1937 im Marienstift zu Braunschweig unfruchtbar gemacht worden ist [...] Aus den Akten des Gesundheitsamtes war nicht feststellbar, dass die Unfruchtbarmachung eine politische Maßnahme darstellte. Der Antragsteller selbst hat keinen Beweis dafür angeboten, dass er politisch irgendwie eingestellt oder tätig war. Er behauptet, zwar politischer Gegner der NS-Gewaltherrschaft gewesen zu sein. Worin jedoch diese Gegnerschaft sich geäußert haben soll, hat er nicht nachweisen können. Daraus allein, dass die NS-Rassenpolitik hier zu Maßnahmen geführt hat, die in einem demokratischen Staat keine Billigung finden können, kann nach dem Sonderhilfsgesetz kein Anspruch hergeleitet werden. Darüber hinaus ist aber auch die Behauptung des Antragstellers, dass er 7 Monate in Gestapohaft in Emden sich befunden haben will, durch nichts glaubhaft gemacht.“

Aus einem Schreiben des Niedersächsischen Landesverwaltungsamtes geht hervor, dass Gretus Schütte auch 1985 noch um eine Entschädigung gekämpft hat. Das Landesverwaltungsamt wies ihn auf die Möglichkeit hin, eine einmalige Zuwendung in Höhe von 5000 D-Mark zu beantragen.

Dass es diese Möglichkeit ab 1980 gab, ist der Beharrlichkeit von Betroffenen und Interessenverbänden wie dem Bund der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V. zu verdanken. Ob Gretus Schütte den Antrag gestellt hat, bleibt unklar. Gelebt hat er zu diesem Zeitpunkt in Emden. Nach einer Auskunft der Zentralen Auskunftsstelle zur Wiedergutmachung von NS-Unrecht bei der Generalzolldirektion in Köln ist Gretus Schütte 2000 gestorben.

Dieser Text ist Teil der Broschüre „Stolpersteine in der Diakonie Kästorf“, kostenfrei erhältlich im Stadtarchiv, in der Stadtbücherei und bei der Diakonie in Kästorf.

Die Forschung zu Opfern des Nationalsozialismus in und aus Gifhorn geht weiter. Hinweise sammelt das Kulturbüro:
Tel. 05371-88226
kultur@stadt-gifhorn.de


Coole Leute gesucht – wir stellen ein!

Informiere Dich über Jobs in unserem Medienhaus! Wir sind auf der Suche nach tollen Menschen, die bei uns einsteigen möchten.

Mehr erfahren