Krieg & Frieden

Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine, Ihr seid willkommen! Der Gifhorner Schulleiter Detlef Eichner sagt aber auch, was besser laufen muss

Detlef Eichner Veröffentlicht am 18.04.2022
Schülerinnen und Schüler aus der Ukraine, Ihr seid willkommen! Der Gifhorner Schulleiter Detlef Eichner sagt aber auch, was besser laufen muss

Wollfäden auf einer Weltkarte im Flur zeigen, woher die Schülerinnen und Schüler an der Freiherr-vom-Stein-Schule kommen – und Rektor Detlef Eichner hält sie mit seinem engagierten Team alle zusammen.

Foto: Michael Uhmeyer

Fast 360 junge Menschen werden an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Gifhorn unterrichtet, 26 verschiedene Sprachen werden gesprochen – und seit wenigen Wochen sind 17 geflüchtete Jugendliche aus der Ukraine hinzugekommen. Rektor Detlef Eichner berichtet in einem Gastbeitrag für KURT von positiven Erfahrungen der Integration – und davon, was Politik und Verwaltung noch schuldig sind.

Meine Mutter ist 82 Jahre alt. Seit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine plagen sie Träume. Sie träumt von ihren Erlebnissen im Zweiten Weltkrieg, von der Vertreibung aus Pommern und davon, wie sie mit ihrer Mutter und den zwei Brüdern nach langer Odyssee endlich in Gifhorn ankam – und hier nicht willkommen war.

Ich bin 56 Jahre alt und versuche zusammen mit einem hoch engagierten Kollegium an der Gifhorner Freiherr-vom-Stein-Schule, allen unseren Schülerinnen und Schülern ein friedliches Umfeld und ein Gefühl des Willkommen-Seins zu ermöglichen. 77 Jahre nach den Erlebnissen, die meine Mutter so offensichtlich traumatisierten, ist das noch immer notwendig.

Unsere Schule besuchen fast 360 junge Menschen, und es sind 26 Sprachen vertreten. Nicht wenige unserer Schüler haben selbst Krieg erlebt; so auch die 17, die erst seit wenigen Wochen bei uns sind. Sie sind mit ihren Müttern vor dem Krieg in ihrer Heimat, der Ukraine, geflüchtet.

Als ich mit Schülervertretern über die Ankunft der ukrainischen Jugendlichen sprach, meinte ein aus Syrien geflohener Junge: „Die müssen wir schützen. Sie kommen aus dem Krieg.“ Junge Menschen erkennen häufig sehr schnell, was getan werden muss, was die Menschlichkeit gebietet. Vor allem, wenn sie selbst solche Erfahrungen haben. Denn ich muss es noch einmal betonen: Leider haben einige unserer Schülerinnen und Schüler Unterdrückung und Krieg erlebt. Sie haben selbst erfahren müssen, was es bedeutet, wenn Menschen gefoltert und auf bestialische Art und Weise hingerichtet werden.

Unsere 17 ukrainischen Schüler der Jahrgänge 5 bis 10 sind jedenfalls gut bei uns angekommen. Zunächst werden sie gemeinsam in einer Sprachlernklasse beschult, um ihnen Deutschkenntnisse zu vermitteln. In der letzten Woche vor den Osterferien nahmen sie aber bereits an den praktischen Fächern in ihren Bezugsklassen teil. So konnten sie zusammen mit Gleichaltrigen Sport treiben, werken, am Hauswirtschafts- und Textilunterricht teilnehmen.

Auffällig ist, wie diszipliniert diese Heranwachsenden in der Schule sind. In der Ukraine scheint Schule, scheinen Lehrerinnen und Lehrer mehr Achtung zu genießen, als es bei uns der Fall ist. Ebenso auffallend sind der große Lerneifer und die Ernsthaftigkeit, mit denen diese jungen Menschen sich ihr neues schulisches Umfeld erschließen und die Unterrichtsinhalte angehen.

Trotz aller positiven Erfahrungen möchte ich nicht verschweigen, dass die Aufnahme ukrainischer Schülerinnen und Schüler für uns an Schule Tätigen auch eine ziemliche Herausforderung darstellt. Nach zwei Jahren Corona-Pandemie mit Schulschließung, Homeschooling und ständig wechselnden Verordnungen sind wir alle müde und ausgelaugt. Hinzu kommt, dass uns der notwendige Lehrernachwuchs fehlt. Unser Beruf scheint aus verschiedenen Gründen nicht mehr so angesagt zu sein. Und wenn jemand Lehrerin oder Lehrer werden möchte, dann häufig nur an einer Großstadtschule; und bitte nur an bestimmten Schulformen.

17 Schüler aus der Ukraine werden zurzeit an der Freiherr-vom-Stein-Schule in Gifhorn unterrichtet. Iryna Petrivska (links) und Sofiia Kotsur aus der Ukraine helfen beim Dolmetschen.

Foto: Reiner Silberstein

Gleichwohl stellen wir uns der Aufgabe, ukrainischen Schülerinnen und Schülern eine schulische Heimat und somit ein wenig Normalität zu geben, mit großem Engagement. Das notwendige Können in Beschulung und Integration von Kindern und Jugendlichen „nichtdeutscher Herkunftssprache“ – so heißt das ganz amtlich – haben wir uns notwendigerweise seit 2013 Schritt für Schritt erworben. Denn auf der Welt gibt es viele Kriege und kriegerische Konflikte, vor denen Menschen flüchten müssen. Einige von ihnen haben den Weg an die Freiherr-vom-Stein-Schule gefunden. Und für uns sind es Schüler wie alle anderen auch.

Letztens hörte ich, dass wir in Niedersachsen von der puren Existenz schulpflichtiger Geflüchteter aus der Ukraine überrascht seien. Ehrlich jetzt? Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014, das aggressive Vorgehen Russlands im Donbas, das Proben von Bombenangriffen in Syrien und die seit Jahren immer vehementer werdende Polemik und Propaganda aus dem Kreml waren deutliche Zeichen. Man hätte vorbereitet sein können.

Man hätte auch auf der Grundlage der Erfahrungen aus 2015 Notfallpläne für die Beschulung Geflüchteter in der Schublade haben können; irgendwo in irgendeiner Verwaltung, die sich zuständig und verantwortlich fühlt. Leider scheint das bei uns im Landkreis Gifhorn eher weniger der Fall zu sein. So ist bis jetzt noch nicht einmal geregelt, welche Schulen ukrainische Schüler in welchem Umfang aufnehmen. Schule kann alleine sicherlich eine Menge bewirken. Aber Schule kann nicht alles alleine. Wir brauchen auch verantwortungsbewusste Unterstützung und Hilfe von Verwaltung.
Wo ich gerade beim Thema Hilfe bin: Als wir bekanntgaben, dass wir Kinder und Jugendliche aus der Ukraine an der Stein-Schule aufnehmen werden, erhielten wir von vielen Gifhornerinnen und Gifhornern Hilfe in Form von gespendeten Schultaschen, Federmappen und anderen Schulmaterialien. Hilfe bekommen wir auch von zwei jungen aus der Ukraine geflüchteten Frauen, die sich als Dolmetscherinnen in der Sprachlernklasse engagieren. Für all diese Hilfe und Unterstützung möchte ich mich ganz herzlich bedanken, denn sie kommt dort an, wo sie am meisten benötigt wird: bei den Kindern und Jugendlichen.

Vor wenigen Tagen ging ich mit Hund Käthe an den Teichen des Angler-Sportvereins spazieren. Dort sprach mich ein mir völlig unbekannter Mann unvermittelt an. Er sei mittlerweile 82 Jahre alt und stamme aus der heutigen Ukraine, so sagte er. Und dann schilderte er mir seine Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg. Er hatte viel zu erzählen. Und jedes einzelne Wort musste gesagt werden. Es waren die verzweifelten Versuche, das in Worte zu fassen, was nach über 70 Jahren noch immer nicht verarbeitet ist. Diese Worte müssen gehört werden.

Zuhören müssen vor allem jene, die der Meinung sind, mit Hilfe von Krieg ihr eigenes Ego und ihre Machtbesessenheit auf Kosten ihrer Mitmenschen auszuleben. Und zuhören müssen auch jene Gifhorner, die an der Stein-Schule vorbeiflanieren und meinen Schülerinnen und Schülern auf dem Pausenhof sagen, dass sie hier nicht willkommen seien.


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