Kopfüber
Gefährliche Parallelen: Unser Kolumnist Malte Schönfeld überlegt, was die Schließung von Continental Teves mit Ostdeutschland zu tun haben könnte
Malte Schönfeld Veröffentlicht am 19.07.2023
Das Gifhorner Werk von Continental Teves und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter prägten lange Zeit unsere Stadt. Ab 2027 ist damit Schluss, die Geschäftsführung hat die Schließung bekanntgegeben.
Foto: Continental Teves
Meinen Urlaub habe ich im Osten verbracht. Wobei genauer gesagt: in einer Wessi-Stadt im Osten. Zumindest, wenn man nach den Ostdeutschen geht. Für viele ist Leipzig eine Hybridstadt, Ostvergangenheit und rosige Zukunft, Totalaufbau und Denkmalpflege, Messestadt und Schauplatz der Friedlichen Revolution.
Die Stadt wächst und wächst. Sie kommt schon auf 600.000 Einwohner. Leipzig ist ein Pulsar, die Stadt strahlt, die Menschen sitzen an den Straßen, rauchen gedrehte Zigaretten und tragen komische Vokuhila. Sie fahren Rennräder, die sie selbst repariert haben. Sie lassen sich in Küchen krakelige Tattoos stechen, kaufen regionale Limonade.
In der Baumwollspinnerei in Leipzig, einem alten Werksgelände, haben sich Künstlerinnen und Galeristen angesiedelt. Die sogenannte Neue Leipziger Schule kreierte ihren eigenen Boom, der noch heute die Nachwirkungen spüren lässt. Auch wenn vieles Einheitsbrei-Kunst ist wie überall, Selbstbezogenheit am Rande der Neurose, gibt’s grelle Momente, wahnwitzige, raumfüllende Ideen. Natalie Paneng ist da in der Galerie Eigen + Art, was zugegebenermaßen ein restlos bescheuerter Name ist, ein Lichtblick.
Was auffällt, ist das Grüne. Leipzig ist eine Stadt, die von ihren Parks lebt. Dort treffen sich privat organisierte Truppen zum Qigong und Tai-Chi. Abends wird gegrillt und Bier aus halben Litern getrunken. Die Bäume absorbieren den Schall, den Staub, die Hitze. Die Parks kühlen die Stadt, das Umland die gesamte Region.
Man ist da ja viel zu selten, im Osten. Vor allem ja auch im anderen Osten. In dem, wo es dann nicht so gut läuft. Wo die Menschen gehen, nicht kommen. Wo es wenig Geld gibt. Wo für ein paar Tage alle Kameras auf Landräte gerichtet werden, und dann wieder jahrelang nicht. Altersarmut, verblasste Träume, kaputte Straßen. Der halbe Liter Bier schmeckt und wirkt hier anders als in Leipzig im Elsapark.
Erst vor wenigen Wochen entzündet sich am Buch „Der Osten – Eine westdeutsche Erfindung“ von Dirk Oschmann eine Diskussion über das, was im Grunde seit 30 Jahren schwelt.
Die Lektüre markiert, dass es diese Unterschiede gibt, zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen den Wessis und den Ossis, zwischen den Reichen und den Armen.
Zurück in Gifhorn, zurück in der Region habe ich den Soziologen Stefan Schulz gehört, der sich als Ossi, wie er sagt, zu erkennen gibt. Schlaue Anmerkung: Der Ossi kann auch als Posterboy dienen, mit dem wir uns alle zukünftig gemeinmachen sollten, weil viele Entwicklungen des Ostens auch uns erwarten werden – Alterung der Gesellschaft, fehlende Rentenabsicherung, solange politisch nicht gehandelt wird. „In manchen Bundesländern wird es mehr Menschen mit Pflegestufe geben als Wähler unter 30“, heißt es bei ihm.
In diesen Tagen müssen wir die Nachricht von der Schließung des Continental-Werks 2027 in Gifhorn hinnehmen. Gute Worte hat Bürgermeister Matthias Nerlich gefunden, der die Entscheidung „als zutiefst bedauerlich, falsch und unzeitgemäß“ bewertet. Die Schließung ist nicht nur wirtschaftlich tiefgreifend für die beinahe 1000 Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern für die ganze Region. Eben weil wir hier so wirtschaftsstark sind, könnte dies auch als erster Dominostein begriffen werden, so wie auch in Bitterfeld und Magdeburg einst, in grauen Vorzeiten, erste Fabriken schließen mussten. Keine Industrie hält ewig.
In Leipzig ist aus den alten Spinnerei-Werken ein Ort der Kunst, des kulturellen Lebens entstanden. Für Gifhorn wird sich diese Frage der Fortnutzung nun auch stellen. Jede gute Idee ist gefragt. Man muss es jetzt nur als das begreifen, was es ist: eine Generationenaufgabe.